Brenda Joyce
Liebe durchströmte sie.
»Warum starrst du mich so an? Ist das etwas
Neues? Habe ich dir nicht bereits gesagt, was ich für dich empfinde – sogar schon
mehrmals?«
Tränen stiegen ihr in die Augen. Aus einem
Impuls heraus gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Ja, aber diesmal ist es
etwas anderes, oder nicht? Ich meine – nun, da sie in der Stadt ist.«
»Die Situation ist eine andere, gewiss, aber
das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.« In verändertem, deutlich angespanntem
Tonfall setzte er hinzu: »Da kommt Farr wieder heraus.«
Francesca wandte sich um und sah den Chief am
Fuß der kurzen Treppe vor dem Fourth Avenue Hotel stehen. Er schien seinen
Männern Anweisungen zu erteilen, jedenfalls nickten diese, als er geendet
hatte, und teilten sich dann auf. Farr stieg in seine wartende Kutsche. Sobald
er außer Sicht war, stieß Bragg die Tür des Hansoms auf, und er und Francesca
sprangen hastig hinaus.
»Warten Sie hier!«, rief er dem Kutscher zu,
während sie gemeinsam die Stufen hinaufrannten und in das Hotel stürmten. An
der Rezeption – einer verschrammten, tabakfleckigen Holztheke, die kaum mehr
als einen halben Meter breit war – schlug Bragg heftig auf den Klingelknopf.
Die winzige Lobby, eher eine Kammer, in der nur ein einziger Tisch mit einem
Stuhl und einem überquellenden Aschenbecher stand, war menschenleer. Ein stark
übergewichtiger Hotelangestellter kam aus einem Hinterzimmer zum Vorschein,
gähnte und sagte: »Noch mehr Schnüffler? Er is nich hier. Gestern ausgezogen.«
Bragg und Francesca starrten einander einen Moment lang verblüfft
an, dann wandte sich Bragg wieder dem Hotelangestellten zu. »Joseph Craddock
ist gestern ausgezogen?«
»Genau. Aber das hab ich dem anderen Bullen schon gesagt.«
Francesca überkam ein äußerst unbehagliches Gefühl. »Er wusste – oder vermutete
–, dass Craddock hier war. Und er hat kein Wort davon gesagt!«, stieß sie
hervor.
»Offensichtlich«, versetzte Bragg mit zusammengebissenen Zähnen.
»Warum? Wenn doch das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht?
Warum?«
Er starrte düster vor sich hin. »Er will etwas herausfinden, das
er gegen mich verwenden kann, Francesca. Ganz einfach.«
»Gar nichts ist einfach!«, rief Francesca aus. Sie wandte sich dem
dicken Hotelbediensteten zu. »Haben Sie eine Ahnung, wohin Craddock
verschwunden ist? Hat er etwas gesagt? Irgendeine Nachricht hinterlassen?«
»Nix. Hat seine Rechnung bezahlt und ist gegangen, ohne ein "Dankeschön".«
Der Mann beäugte sie nun mit einem lüstern-interessierten Ausdruck.
»Zeigen Sie uns sein Zimmer«, verlangte Bragg.
Der Angestellte nickte, und wenige Minuten
später schloss Bragg die Tür zu dem Zimmer auf, das Craddock eine ganze Woche
lang bewohnt hatte. Die Jalousien waren fast vollständig geschlossen, sodass
der kleine, quadratische Raum größtenteils im Dunkeln lag. Bragg trat als
Erster ein und entzündete eine Gaslampe, die auf dem Nachttisch stand.
Francesca verzog das Gesicht. Das Zimmer war winzig, dreckig und
von einem Geruch erfüllt, der verdächtig an Urin erinnerte. Das Bett war nicht
gemacht, und die Laken wirkten schmuddelig. In der Mitte des Raumes lag auf
dem Fußboden ein zerschlissener, lehmverschmierter Flickenteppich. An einer
Wand befanden sich mehrere Kleiderhaken sowie ein dilettantisch gemaltes Aquarellgemälde,
das eine Vase mit Blumen darstellte. Ein windschiefer Sekretär mit einer
Wasserkaraffe und fleckigen Gläsern vervollständigte die Einrichtung.
Während Bragg nacheinander die Schubladen des Sekretärs öffnete,
trat Francesca an das einzige Fenster und blickte hinaus in eine finstere, enge
Gasse, in der eine umgekippte Mülltonne herumlag. Anschließend wandte sie sich
dem Bett zu, hob mit spitzen Fingern die Laken an und schaute unter die
Kissen, fand jedoch nichts.
»Komm mal her«, forderte Bragg sie auf.
Francesca wandte sich um und sah, dass er einen Zeitungsausschnitt
in der Hand hielt. »Was ist das?«
»Ein Artikel über Viehzucht«, erwiderte Bragg, während er las. »Es
geht um die Schwierigkeiten, mit denen die Rancher heute im Westen des Landes
zu kämpfen haben. Der Artikel stammt vom 2. August 1901.«
Dieses Datum lag ein halbes Jahr zurück. »Ist darin von der Ranch
deines Großvaters die Rede? Der, auf der Lucy, Shoz und die Kinder leben?«
»Sie wird erwähnt«, bestätigte Bragg und blickte auf. »Allerdings
nur insofern, als sie ein Vorbild für andere Rancher darstellt.
Ein
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