Brenda Joyce
Halle.
»Francesca, wenn Sie einen Anlass hatten, Ihre Pistole zu benutzen, dann liegt
irgendetwas entsetzlich im Argen.«
»Zwingen Sie mich nicht, Sie zu belügen«, flehte sie noch einmal.
»Haben Sie einen Schuss abgegeben?«, fragte er wieder. Sie holte
tief Luft – er ließ einfach nicht locker. »Ja. Aber ich wollte niemanden
treffen.«
»Es war also ein Warnschuss«, stellte der Commissioner grimmig
fest. »Ich werde mich einmal ausgiebig mit meiner kleinen Schwester unterhalten
müssen.«
Francesca hielt das insgeheim für eine gute Idee. Trotz Lucys
Bitten um Verschwiegenheit war sie selbst der festen Überzeugung, dass diese
Angelegenheit am besten innerhalb der Familie geregelt werden sollte.
Andererseits konnte sie Lucy nun einmal nicht verraten. »Bragg«, begann sie behutsam,
»ich befinde mich in einer Zwickmühle. Im Grunde weiß ich überhaupt nichts, außer
dass Lucy nicht will, dass Sie oder irgendjemand sonst in der Familie von der
Sache erfährt. Darauf hat sie ausdrücklich bestanden.« Sie begegnete seinem
forschenden Blick. »Ich kann Sie natürlich nicht hindern, mit ihr zu sprechen.
Doch sie vertraut mir, und ich beabsichtige, ihr zu helfen.«
Er zögerte. »Sie jagen mir beinahe Angst ein. Wie schlimm steckt
sie in Schwierigkeiten? Besteht eine ernsthafte Gefahr – oder erübrigt sich
diese Frage womöglich?«
Noch immer darauf bedacht, sich nicht zu viel entlocken zu lassen,
erwiderte Francesca: »So ist es. Aber Näheres weiß ich selbst nicht, wirklich
nicht.«
»Das beruhigt mich nicht gerade«, versetzte er
scharf.
»Ich weiß.« Francescas Verstand arbeitete fieberhaft. »Könnte ich
wohl morgen im Präsidium vorbeikommen und mir die Schurkensammlung ansehen?«,
erkundigte sie sich. So nannte Bragg eine Kladde voller Fotografien und
Zeichnungen verschiedener Krimineller.
Er starrte sie eine Weile lang
an, ehe er resigniert einwilligte: »Von mir aus dürfen Sie sich die Bilder
ansehen, Francesca.«
Ihre Blicke trafen sich. »Was
werden Sie unternehmen?«, wollte sie wissen.
Er lächelte mit einem eigentümlichen Ausdruck.
»Ich denke, wenn Sie mit der Schurkensammlung fertig sind, werde ich meinerseits
einen Blick hineinwerfen. Lucy braucht wohl nichts davon zu erfahren, nicht
wahr?«
Francesca empfand eine Spannung, die freudig und angstvoll
zugleich war. Bragg wollte seiner Schwester also helfen, ganz gleich, ob diese
es wünschte, und unabhängig von dem Versprechen, das sie Francesca abgenommen
hatte.
Im nächsten
Moment schritt er davon, offenbar um draußen einen Blick auf die Spuren von
Francescas Tun zu werfen. Francesca starrte ihm nach. Sie konnte nur hoffen,
dass Lucy sie nicht beschuldigen würde, ihn mit der Sache vertraut gemacht zu
haben.
SAMSTAG,
15. FEBRUAR 1902 – 23 UHR
»Welch ein entzückender Abend das war«, schwärmte Mrs Channing. »Finden
Sie nicht auch, Grace?«
»Wirklich ganz reizend«,
bestätigte Grace mit einem höflichen Lächeln. »Ich habe meinen Sohn sehr
vermisst und bin wirklich froh, wieder in der Stadt zu sein.« Sie wandte sich
Bragg zu.
Er erwiderte ihr Lächeln. »Das
beruht ganz auf Gegenseitigkeit«, versicherte er.
»Heißt das, Sie bleiben hier in New York?«, erkundigte sich Mrs
Channing eifrig. »Haben Sie Ihr Haus nicht vor einigen Jahren verkauft?«
»Nur vermietet«, erwiderte Rathe leichthin. »Meine Frau findet
allerdings, wir sollten in den Norden der Stadt ziehen. Wir werden uns
demnächst nach einem passenden Grundstück umsehen.« Er ergriff die Hand seiner
Frau.
Francesca ging mit der Gruppe durch die Halle, während Sarah und
Evan schweigend in einigem Abstand folgten. Sarah war während des Essens sehr
still geworden und hatte kaum etwas zu sich
genommen. Rourke, der hinter den beiden herging, schien tief in Gedanken
versunken – er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände in den Hosentaschen
vergraben. Nun beobachtete Francesca, wie Rathe seiner Frau zulächelte und
Grace seinen Blick mit einem sanften Lächeln erwiderte.
Sie hatte bereits bemerkt, dass die beiden eine echte Liebe verband,
doch zu sehen, dass sie noch immer ineinander verliebt waren, überraschte
sie.
Rourke, der inzwischen aufgeholt hatte, sprach sie an: »Soll ich
Sie nach Hause bringen, Miss Cahill?«
Erschrocken blickte sie in sein attraktives
Gesicht – ein Gesicht, das dem seines Bruders auf geradezu unheimliche Weise
ähnelte. Schlimmer noch, als sie ihm in die Augen sah, erkannte sie, dass er
sie durchschaute und sich
Weitere Kostenlose Bücher