Brenda Joyce
unterschwelligen Tadel zu erkennen.
Zu ihrer Überraschung fuhr Rourke an sie gewandt fort: »Ich habe
gestern Abend einen Blick in Miss Channings Atelier geworfen. Lucy hat Recht –
sie ist wirklich brillant. Ganz erstaunlich für solch ein unscheinbares
Persönchen.«
»Ich freue mich, dass Sie ebenfalls dieser Ansicht sind«, erwiderte
Francesca. In diesem Moment erschien Bartolla auf der Treppe. Die Gräfin trug
ein auffallend figurbetontes Ensemble aus königsblauem Brokat, das an den
Säumen und Ärmeln mit Fuchsfell in einem blasseren Blauton abgesetzt war. An
ihrem Hals funkelten drei Saphire. Das Haar war in makellose Wellen gelegt, und
ein paar der rötlichen Strähnen hatten sich aus der Frisur gelöst und
umspielten ihr Gesicht.
Francesca machte sie mit Rourke bekannt. »Dies ist Braggs Bruder
Rourke, und dies ist die Gräfin Benevente.«
Bartolla schüttelte den Kopf. »Nein, wie sehr Sie Ihrem Bruder
ähnlich sehen! Gewisse Unterschiede gibt es natürlich, aber es ist unverkennbar,
dass Sie Geschwister sind – ja, man könnte Sie sogar für Zwillinge halten.«
»Die Ähnlichkeit ist rein äußerlich«,
versicherte Rourke augenzwinkernd. »Seien Sie versichert, dass ich deutlich klüger, wesentlich
interessanter und erheblich weniger moralisch bin.«
Bartolla lachte. »Dann ist es mir wahrhaft ein Vergnügen, Ihre
Bekanntschaft zu machen – die Moral ist ein lästiges Ding.«
»Allerdings«, bestätigte er. Seine Augen funkelten belustigt und
bewundernd zugleich. »Ein Jammer, dass Sie gestern Abend nicht bei uns waren.«
»Ich hatte leider bereits andere Pläne«, behauptete Bartolla. In
Wahrheit war sie gar nicht eingeladen worden.
»Aber bei unserem nächsten
Abendessen im Familienkreis dürfen Sie unter keinen Umständen fehlen«,
verkündete Rourke. Bartolla lachte wieder.
Evan trat
auf sie zu und räusperte sich.
Augenblicklich drehte sich Bartolla zu ihm herum, nahm seine Hand,
und die beiden blickten sich an, als seien alle anderen um sie herum mit einem
Schlag vom Erdboden verschwunden. »Wie geht es Sarah heute Morgen?«, erkundigte
sie sich mit aufrichtigem Interesse.
»Zum Glück schon besser«, erwiderte Evan. Francesca bemerkte, wie
er dabei die Hand der Gräfin drückte.
Sie erstarrte – ob die beiden wohl eine
Liebesaffäre hatten? Ein Blick zu Rourke verriet ihr, dass er sich dieselbe
Frage stellte. Bartolla trat einen Schritt zurück und verkündete heiter: »Ich
denke, ich werde Sarah ein Geschenk kaufen. Etwas, das sie ein wenig
aufheitert. Seit ihr Atelier verwüstet wurde, ist sie so furchtbar
niedergeschlagen. Hmm ... ich könnte mir vorstellen, dass ein Buch über Kunst
genau das Richtige wäre, um einer Künstlerin, die das Bett hüten muss, die Zeit
zu vertreiben.«
»Ich könnte mir einen besseren Zeitvertreib ausmalen für jemanden,
der das Bett hüten muss«, murmelte Rourke.
Bartolla warf ihm einen Blick zu. »Ich ebenfalls. Nur dass ich
Witwe bin, während Sarah noch unverheiratet ist.«
»Oh, mein Beileid, Gräfin«, sagte Rourke mit einem Ausdruck, der
keinen Zweifel daran ließ, wie wenig er das Ableben des Grafen bedauerte.
»Ich danke Ihnen.«
»Bartolla ist erst kürzlich nach New York gekommen«, schaltete
sich Evan ein und trat zwischen die beiden. »Ich habe ihr die Stadt gezeigt.
Natürlich gemeinsam mit Sarah.«
»Natürlich«, versetzte Rourke trocken.
»Ein Buch über Kunst ist eine ausgezeichnete Idee«, warf Francesca
ein. Alle wandten sich ihr zu. Die beiden konnten keine Liebesaffäre
haben – Evan würde seine Verlobte nicht derart missachten, dass er sie mit
ihrer eigenen Cousine betrog.
Andererseits wusste sie aus eigener Erfahrung, dass die Leidenschaft
alle Bande der Moral und Konvention zu sprengen vermochte. Und sowohl Bartolla
als auch Evan waren in Herzensangelegenheiten allzu erfahren.
»Meine Kutsche steht draußen«, verkündete Evan, ausschließlich an
Bartolla gerichtet. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie ein Stück mitnehmen.«
»Das wäre außerordentlich liebenswürdig von
Ihnen«, erwiderte Bartolla mit übertriebener Geste, wobei sie den Blick nicht
von seinem Gesicht wandte. »Und zufällig bin ich bereits ausgehfertig, da ich
heute Vormittag eine Verabredung habe.«
Es war nicht einmal elf Uhr. Francesca fragte sich, welche Art von
Verabredung Bartolla wohl an einem Sonntagmorgen haben konnte – erst recht, da
die Gräfin für gewöhnlich kaum vor elf aufstand, geschweige denn das Haus
verließ. »Bartolla?
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