Brenda Joyce
scheint, es
handelt sich bei Craddock nicht gerade um einen angenehmen Zeitgenossen,
Francesca.«
»Den Eindruck habe ich leider
auch«, stimmte sie zu. »Aber er ist der Mann, der gestern Lucy bedrängt hat.«
Bragg ging auf die Polizisten zu. »Wenn Farr mit der Craddock-Akte
fertig ist, legen Sie sie mir auf den Schreibtisch«, wies er Shea an.
»Aye-aye, Commissioner«, parierte der Captain.
Nachdem sich Shea entfernt
hatte, traten Francesca und Bragg dichter aufeinander zu. »Craddock hat
möglicherweise vor zwei Jahren eine Frau erpresst«, berichtete Francesca im
Flüsterton. »Glauben Sie, dass er meine Schwester erpresst?«, fragte Bragg
ebenso leise.
Sie dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht. Immerhin ist Ihre
Familie reich, das ist kein Geheimnis.«
Ihre Blicke trafen sich. Nach
kurzem Schweigen murmelte Bragg: »Womit sich die Frage stellt: Was hat Lucy zu verbergen?«
Francesca nickte. »Ich weiß es
nicht, aber möglicherweise müssen wir genau das herausfinden.«
Francesca traf allein bei der Villa der Channings
ein. Joel hatte sie ausgeschickt, während er dafür sorgte, dass sich die Kunde
von der ausgesetzten Belohnung herumsprach. Sie selbst war inzwischen zu Wells
Fargo gegangen, um ein Telegramm nach Fort Kendall zu schicken. Sie hoffte
inständig, noch am selben Tag oder spätestens Montag früh eine Antwort von dort
zu erhalten. Falls der Gefängnisdirektor nicht auf ihre Anfrage reagierte,
würde sie persönlich die Haftanstalt aufsuchen müssen, um mit ihm zu sprechen.
Sie hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass Kendall mit dem Zug in etwa acht
Stunden zu erreichen war – der Ort lag nördlich von New York City, an der
Strecke nach Albany.
Während Francesca den Fahrpreis für ihre Mietdroschke entrichtete,
bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, dass Evans Kutsche in der Auffahrt vor dem
Haus stand. Gleich darauf fiel ihr ein, dass ihr Bruder am Abend zuvor keine
Gelegenheit gehabt hatte, Sarah zu eröffnen, dass er die Verlobung auflösen
wollte. Sie fragte sich, ob Sarah in ihrem derzeitigen Zustand wohl einem
solchen Gespräch gewachsen war.
Francesca wurde sofort eingelassen. In einem Salon, der direkt an
die Empfangshalle grenzte – dem Raum mit den Bärenfellen und den
Blattgoldverzierungen –, fand sie ihren Bruder vor, der unruhig auf und ab
schritt. »Evan?«
Als er sie erblickte, blieb er
stehen. »Guten Morgen, Fran.«
Francescas Lächeln erstarb – er
wirkte finster und verbissen. Sie ging auf ihn zu und erkundigte sich mit
gesenkter Stimme: »Hast du schon mit Sarah gesprochen? Wie geht es ihr? Was war
gestern Abend los?«
Evan seufzte, die Hände in den Taschen seines braunen
Tweed-Jacketts vergraben. Er schien erschöpft. »Sie war offenbar sehr
geschwächt, Fran«, berichtete er aufrichtig besorgt. »Am Ende hat Rourke sie
ins Haus und hinauf in ihr Bett getragen. Sie hatte hohes Fieber. Finney
vermutet, es sei ein schwerer Fall von Grippe.«
»Und was
hat Rourke gesagt?«
»Nicht viel. Was mich, ehrlich
gesagt, ziemlich beunruhigt.«
»Sarah liegt dir also doch am
Herzen«, stellte Francesca fest.
»Aber nicht so, Fran.
Sie ist einfach nur ein nettes Mädchen, das keiner Fliege etwas zuleide täte.
Ich hoffe, dass sie nicht ernsthaft krank ist.«
Beiden war
klar, dass die Grippe Todesopfer forderte, besonders
unter sehr jungen, alten und gesundheitlich angeschlagenen Patienten.
Francesca war bisher gar nicht in den Sinn gekommen, dass Sarah bei schwacher Gesundheit
sein könnte, doch nun fiel ihr wieder ein, wie Rourke ausgerufen hatte, sie sei
viel zu dünn – nur Haut und Knochen.
»Was führt dich her?«, fragte Evan.
»Mein Fall«, gab Francesca zurück. »Kann ich kurz mit dir sprechen?«
Er nickte, und die beiden Geschwister nahmen einander gegenüber
auf zwei Sesseln Platz.
»Kannst du dich an eine junge Frau erinnern, die vor deiner
Verlobung besonders in dich verliebt zu sein schien? Gab es eine, die sich mehr
als andere bemühte, dein Herz zu erobern – und deine Hand?«
Er seufzte. »Ich habe darüber nachgedacht,
nachdem du mir diese Frage ja bereits gestern gestellt hattest. Aber ich kann
mir einfach nicht vorstellen, dass eine junge Dame aus unseren Kreisen so
etwas täte. Um die Wahrheit zu sagen – ich halte es für weitaus
wahrscheinlicher, dass der Anschlag Bartolla galt. Sie ist einfach die
schönste und faszinierendste Frau in der Stadt, und es ist nicht zu übersehen,
wie sich sämtliche Männer darum reißen, ihre
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