Brenda Joyce
erfahren
habe!« Ihre großen Augen wirkten unschuldig und verängstigt zugleich. Es
schien, als stünden Tränen darin.
Ist das nicht köstlich, dachte Bartolla. Es versprach ein hochinteressanter
Winter zu werden. »Ja, es tut mir auch sehr Leid.«
»Es heißt, er wird sterben«, brachte Leigh Anne heraus. »Mein
Vater stirbt, und meine Mutter ist völlig aufgelöst, ebenso wie meine
Schwester.« Sie schlug die Augen nieder. »Wenn er stirbt, bin ich für alle
verantwortlich.«
Bartolla hatte bislang nichts von einer
Schwester gewusst, und ihr war auch nicht klar gewesen, dass sich das Gespräch
um Leigh Annes Vater drehen würde. »Es tut mir wirklich aufrichtig Leid«,
wiederholte sie, bereits gelangweilt. Dann kam ihr ein Gedanke. »Ich bin
überzeugt, dass dein Mann eine gewisse Verantwortung für deine Familie empfinden
wird, meine Liebe.«
Leigh Anne lächelte schwach. »Ich weiß gar
nicht, was ich tun soll«, hauchte sie und schien bereits wieder den Tränen nahe
zu sein. Offenbar hatte sie nicht die Absicht, Bartollas Köder zu schlucken.
Doch dann fuhr sie fort: »Und nun ist da auch noch diese andere Frau.«
Bartolla setzte eine überraschte Miene auf, während sie innerlich
belustigt war. O ja, es würde wahrhaftig ein interessanter Winter werden. Nicht
dass sie irgendetwas gegen Francesca Cahill hatte – im Gegenteil, sie mochte
sie sogar. Ebenso wie sie selbst war Francesca eine Frau, die eigene Wege ging.
Dasselbe galt für Leigh Anne. »Welche Frau?« Sie blinzelte.
»Nun, zuerst hat Cecelia Thornton mir von ihr erzählt – und dann
hast du mir doch diesen Brief geschrieben!« Leigh Anne ergriff ihre Hand. »Bartolla, ich bin so dankbar. Dafür, eine solch
liebe Freundin zu haben, und dafür, dass dieser Brief per Kurier kam – sonst
hätte ich womöglich erst in Wochen von ihr erfahren.«
»Was sonst hätte ich tun können?«, murmelte
Bartolla.
Leigh Anne richtete sich auf und legte beide
Hände in den Schoß – eine bescheidene, beinahe unterwürfige Pose. Sie blickte
unter ihren langen Wimpern auf und murmelte: »Nun musst du mir alles erzählen,
was es über diese Francesca Cahill zu wissen gibt.«
Kapitel 11
SONNTAG, 16. FEBRUAR 1902 – 19 UHR
Als die Gäste
zum Abendessen eintrafen, war Francesca vor Anspannung ganz verkrampft, was
unmöglich auf gewöhnliche Nervosität zurückzuführen sein konnte. Während Julia
Rathe und Grace Bragg begrüßte, stand ihre Tochter am anderen Ende der
Empfangshalle auf der Schwelle zu dem Salon, in dem sie vor dem Essen noch
einen Cocktail genießen würden. Anfangs hatte sie sich geweigert, sich zu
diesem Anlass besonders zurechtzumachen – schließlich wollte sie den unseligen
Versuch ihrer Mutter, sie zu verkuppeln, nicht noch unterstützen. Im letzten
Moment dann, als es bereits viel zu spät war, ihr Haar zu legen, hatte sie sich
von ihrem Dienstmädchen Bette helfen lassen, das alte und langweilige taubengraue
Kleid abzulegen und stattdessen das neue türkisfarbene anzuziehen, das sie am
Abend zuvor im Plaza getragen hatte. Außerdem hatte sie ihren Haarknoten
gelockert und ein paar Strähnen herausgezupft, sodass sie ihr Gesicht und ihren
Hals umspielten. Sie hatte sich sogar die Lippen mit einem Hauch Rouge betupft.
Ihr war vollauf bewusst, was sie da tat – sie wollte, dass Hart sie attraktiv
fand, so töricht dieser Wunsch auch sein mochte.
Julia und Grace umarmten einander ohne jede Herzlichkeit, und die
Blicke, die sie wechselten, waren höflich zurückhaltend. Francesca begriff –
was konnte schon eine standes- und traditionsbewusste Dame wie ihre Mutter mit
einer reisenden Frauenrechtlerin verbinden? Rathe kündigte an, Hart und Rourke
kämen in Kürze nach, denn Hart müsse noch Lucy vom Hotel abholen und Rourke
wolle kurz nach Sarah Channing sehen.
Francescas Vater war soeben heruntergekommen und blieb neben ihr
stehen. »Du siehst heute Abend bezaubernd aus, Francesca«, sagte er, doch sein
Blick war kummervoll.
Francesca musste wieder an den entsetzlichen Streit denken, dessen
Zeugin sie an diesem Nachmittag geworden war. Sie hängte sich bei Andrew ein
und küsste ihn auf die Wange. »Bitte versöhne dich wieder mit Mama. Bitte.«
»Das ist nicht deine Angelegenheit, Francesca«, entgegnete er –
zwar ruhig, aber seine Worte waren dennoch ein Schock.
Und er täuschte sich. »Papa! Es ist sehr wohl meine Angelegenheit!
Ihr seid schließlich meine Eltern, und Evan ist mein Bruder!«
Er tätschelte ihre Schulter,
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