Brenda Joyce
vergessen. Eines
Tages könnte sich dieses Wissen als nützlich erweisen.
Und dann, ganz plötzlich, verstummte die Frau,
die die ganze Zeit weiterhin »Hilfe! Mörder! Ungeheuer!« geschrien hatte. Sie
hob den Kopf, der über Harts Rücken herabhing, sah Francesca an und zwinkerte
ihr zu.
Francesca blinzelte und traute ihren Augen
nicht.
Eine kleine Menschenmenge hatte sich in Calder Harts riesiger Küche
versammelt.
Die Frau saß an dem Tisch, an dem für gewöhnlich die Dienstboten
aßen. Sie war mittlerweile gebadet, ihr Haar gewaschen und aufgesteckt und sie
trug Dienstbotenkleidung: ein schlichtes, schwarzes Kleid mit einem gestärkten
weißen Kragen. Sie trank bereits ihre dritte Tasse Kaffee und aß den zweiten
Teller Rindfleisch mit Kartoffeln – offenbar war sie völlig ausgehungert. Nun,
da sie sauber und anständig gekleidet war, sah sie aus wie eine gutherzige,
pausbäckige Großmutter.
Francesca, die als Einzige am Tisch Platz genommen hatte, saß ihr
direkt gegenüber. Grace Bragg, Ricks Stiefmutter und die Pflegemutter von
Calder, stand neben ihr, ebenso wie ihre Tochter, Lucy Savage. Beide Frauen
waren schön, hochgewachsen, mit üppigen Rundungen, schlanken Taillen und
glänzendem roten Haar. Grace war zum Ausgehen gekleidet – sie trug ein grünes
Abendkleid mit Diamantschmuck, Lucy indessen ein blaues Tageskleid. Die beiden
Frauen sahen sich verblüffend ähnlich, abgesehen vom Alter und der Tatsache,
dass Lucys Haar sehr viel länger war. Außerdem trug Grace eine Brille mit
Drahtgestell, die ihr ständig von der Nase zu rutschen drohte.
Rourke und sein Vater, Graces Mann Rathe, standen im Türrahmen,
die Arme vor der Brust verschränkt. Die zwei Männer waren ebenfalls für einen vergnüglichen Abend in der Stadt
gekleidet. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war nicht geringer als die
zwischen Mutter und Tochter: Beide hatten bernsteinfarbene Augen, waren dunkelblond
und sehr attraktiv.
Ein Dutzend Bedienstete beobachteten den Eindringling von ihren
jeweiligen Arbeitsplätzen in der großen Küche aus, in der es mehrere Öfen sowie
drei Herde, zwei Kamine und zwei lange Arbeitstische gab.
»Sie haben bemerkenswerte Arbeit geleistet, Francesca«, sagte
Lucy. »Ich hätte es nie geglaubt, aber sie könnte ohne weiteres in Harts
Diensten stehen.«
Bevor Francesca überhaupt die Gelegenheit hatte, zu antworten,
hielt die Frau mit dem Essen inne und sagte: »Hat Ihnen schon mal jemand
gesagt, dass es unhöflich is, über jemanden zu reden, wenn er dabei is?«
Lucy errötete und trat vor. »Es tut mir
leid«, sagte sie.
Francesca beugte sich zu der Frau hinüber. »Können wir vielleicht
noch einmal von vorn beginnen?« Sie lächelte.
»Ich bin Francesca Cahill. Der Gentleman, der uns hergebracht
hat, heißt Calder Hart und dies hier ist sein Haus. Und wie heißen Sie?«
»Ihr Freund is ja'n richtiger Krösus«, sagte die Frau, »und 'n
Esel.«
Lucy
kicherte.
Francesca lächelte und erwiderte: »Er kann einen in der Tat an den
Rand der Verzweiflung bringen, aber er hat auch seine guten Seiten. Das
hier ist seine Familie. Seine Eltern, Rathe und Grace Bragg, seine Schwester
und sein Bruder, Lucy und Rourke.« Es wäre sinnlos gewesen, hinzuzufügen, dass
Hart gar nicht wirklich mit den Braggs verwandt war.
Die Frau richtete sich abrupt auf. »Bragg? Es sind Braggs hier?«
Francesca nickte neugierig. »In der Tat. Kennen Sie die Familie?«
»Es gab da mal 'nen Anwalt namens Bragg. In Boston. Der hat sich
um meinen Sohn gekümmert.«
Es wurde sehr still im Zimmer. Francescas Herz begann vor
Aufregung schneller zu schlagen. Sie hörte, wie jemand den Raum betrat, blickte
aber nicht auf. »Das dürfte Rick Bragg gewesen sein. Er ist jetzt der
Polizei-Commissioner von New York.«
»Mein Sohn war unschuldig. Aber alle haben gesagt, er hätte seine
Frau umgebracht.« Tränen traten ihr in die Augen, doch sie weinte nicht. »Aber
Bragg hat ihm geglaubt. Er war der Einzige, der ihm geglaubt hat, der Einzige,
der den Fall übernehmen wollte.«
Francescas Herz war von Liebe und Stolz erfüllt. Der Nachmittag
mit Hart hatte sie beinahe vergessen lassen, welche Eigenschaften sie bei einem
Mann aufrichtig bewunderte: tätige Nächstenliebe und einen kompromisslosen
Sinn für Gerechtigkeit. Sie lächelte. »Er ist ein guter Freund von mir.«
»Mein Name is Ellie«, sagte die Frau
plötzlich und warf einen kalten Blick in Richtung Tür. »Und ich mag's nicht, wenn
mich ein Mann so grob
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