Brenda Joyce
wie sein Verrat bewies. »Warum?«, fragte sie.
Es war eine so simple Frage, und doch die tiefgründigste überhaupt.
»Du würdest
es nicht verstehen.«
Sie ließ ihren Blick über ihn hinwegwandern,
während das Verlangen zu weinen immer größer wurde. Aber sie würde nicht
weinen. Nicht vor ihm. Weder jetzt noch morgen, noch sonst irgendwann. »Dann
erkläre es mir doch bitte.« Aber sie wusste die Antwort bereits. Sie war nicht
perfekt genug.
»Das halte ich für keine gute Idee«,
erwiderte er in einem scharfen Tonfall, der sie überraschte. »Es tut mir Leid«,
sagte er, und wieder zuckte dieser Muskel in seinem Kiefer. »Es wird nicht
wieder vorkommen. Wirst du mir verzeihen?«, fragte er.
Natürlich würde sie ihm verzeihen. Er war ihr Mann, bis dass der
Tod sie schied.
»Nein«, sagte Connie. »Ich werde dir nicht verzeihen, Neil.« Er
sah ihr mit großen Augen nach, als sie das Zimmer verließ.
War Calder Hart am Mordabend bei Georgette de Labouche gewesen? Während
die Kutsche die Fourty-eighth Street entlangfuhr, überschlugen sich Francescas
Gedanken. Sie glaubte nicht, dass er der Mörder war, weigerte sich, es zu
glauben. Er mochte wohl sittenlos sein und so etwas wie ein Bösewicht, aber er war Braggs Bruder und konnte einfach kein
Mörder sein.
Doch ein Nachbar hatte einen Fremden, auf den Harts Beschreibung
passte, dabei beobachtet, wie er Miss de Labouches Wohnung verließ – und das
vor acht Uhr abends. Das bedeutete nichts Gutes für ihn.
Hart hatte seinem Bruder ein Alibi präsentiert, und aus diesem
Grund waren Francesca und Joel jetzt nicht auf dem Weg zu Randalls Witwe,
sondern zu den Schwestern Jones. Bei ihnen hatte sich Hart an jenem fraglichen
Abend angeblich bis neun Uhr aufgehalten. Der Beileidsbesuch bei der Witwe
konnte noch bis zum nächsten Tag warten.
»Hey, Miss!«, sagte Joel laut.
Francesca wurde bewusst, dass er seit dem Moment, als sie den
unverschämten Reporter auf der Straße neben Georgette de Labouches Haus hatten
stehen lassen, versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Tut mir Leid,
Joel. Ich war in Gedanken.«
»Völlig weggetreten trifft's wohl eher«, brummte er. »Wollen Sie
denn gar nich wissen, was ich bei den Nachbarn rausgefunden habe?«, fragte er.
Francesca zuckte zusammen. »Ich will doch nicht hoffen, dass du
etwas gestohlen hast!«, sagte sie.
»Ach was! Ich sollte doch bloß rausfinden, ob wer was gesehen
hat.« Er grinste.
Francesca beugte sich eifrig vor. »Hat denn jemand etwas gesehen?«
»Nö. Aber
das Flittchen hat Familie.«
»Wie
bitte?«
»Sie hat 'nen Bruder. Mark Anthony. Und er wohnt hier in New York.
Irgendwo in der Innenstadt.«
»Das soll
wohl ein Scherz sein«, sagte Francesca enttäuscht.
Der Junge
runzelte verwirrt die Stirn. »Ist kein Scherz. Sie hat wirklich 'nen Bruder.
Mark Anthony. Soll 'n Spieler sein.«
»Mark Anthony. Marcus Antonius. Das war einer von Cäsars
Generälen, Joel«, sagte Francesca. »Da hat dich jemand auf den Arm genommen.«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Cäsar? Von dem hab ich noch nie
was gehört. Dieser Anthony hat jedenfalls 'ne Wohnung irgendwo auf dem Broadway und besucht die Labouche hin und wieder.
Sie ist seine Schwester«, beharrte er. »Er bringt ihr sogar ab und zu Geschenke
mit. Die beiden stehen sich sehr nah. Wenn er sonntags kommt, essen sie abends
zusammen. Er ist der einzige Verwandte, den sie hat.«
Vielleicht war es ja doch kein Scherz.
Vielleicht gab es in dieser Familie eine Vorliebe für lächerliche Namen.
»Weißt du denn, wo Mr Anthony zu finden
ist?«, fragte Francesca.
»Ich werd ihn schon auftreiben«, erklärte Joel zuversichtlich. Sie
lächelte und tätschelte seinen Kopf mit den dichten schwarzen Locken. »Das
hast du gut gemacht«, lobte sie ihn liebevoll. »Du gibst einen guten Gehilfen
ab.«
»Finden
Sie?«, fragte er strahlend.
»Ja, das
finde ich.«
Während er vergnügt zu pfeifen begann, blickte Francesca aus dem
Fenster und dachte über eine andere Frage nach. Sie selbst war Zeugin gewesen, wie jemand Miss de
Labouches Wohnung betreten hatte. Ob es sich dabei um Hart gehandelt haben
könnte?
Sie war sich nicht sicher. Immerhin hatte sie nur einen kurzen
Blick auf den Mann werfen können, und obendrein war es dunkel gewesen. Sie sah
sich außerstande, den Mann zu identifizieren.
Doch wenn es Hart gewesen war, so hatte er den Mord nicht begangen
– denn er wäre ja wohl kaum zurückkehrt, um den Mann, den er gerade umgebracht
hatte,
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