Brennaburg
sich auf eine Weise zu verhalten, die ihnen bislang fremd gewesen war – dergleichen bereitete ihm ein eigentümliches Vergnügen. Es steigerte sich noch, wenn es ihm gelang, andere zu verblüffen.
Ein Bauer wird erschlagen; der Täter, zu arm, um das Wergeld zahlen zu können, entzieht sich der drohenden Verknechtung durch Flucht. Was tun die Verwandten des Toten? Sie bewaffnen sich und rennen tagelang durch die Wälder, natürlich erfolglos, denn sie haben ja keine Spur. Danach gehen sie wieder an ihre Arbeit. Irgendwann werden sie den Totschläger sicherlich erwischen, falls nicht, so hat es eben nicht sollen sein. Damit ist die Angelegenheit für sie erledigt.
Keineswegs hingegen für den Grafen Gero. Er hat den Geflohenen nicht vergessen, und er wird ihn nicht vergessen. Allerdings denkt er nicht daran, die sinnlose Suche fortzusetzen – wozu auch. In jedem größeren Ort gibt es Leute, die von ihren Angehörigen als Last betrachtet und daher verlassen oder verstoßen wurden: Krüppel, Sieche, Alte. Zur Untätigkeit verurteilt, lungern sie vor den Kirchen herum und nehmen hier Dinge wahr, denen die Gesunden und Geschäftigen keine Beachtung schenken. Für einen Grafen, der hin und wieder ein paar Worte mit ihnen wechselt, wären sie bereit, sich in Stücke hauen zu lassen. Aber das verlangt der ja nicht von ihnen. Er verlangt gar nichts, läßt sie einfach reden, und sie erzählen ihm, was ihnen gerade so durch den Kopf geht. Dann und wann stellt er Fragen, keinesfalls fordernd, eher ein bißchen zerstreut, und allmählich entwickeln auch die Unbedarftesten ein Gespür für das, was ihn besonders zu interessieren scheint. Berichte über Wunder, an denen sie sich untereinander zu berauschen pflegen, lassen ihn seltsamerweise kalt. Alltägliches ist es, das seine Anteilnahme weckt: Geburten und Sterbefälle; wer sich mit wem gestritten oder versöhnt hat; ob Fremde im Dorf aufgetaucht sind; wie die Ernte ausgefallen ist … Schmeichelhaft übrigens, wie aufmerksam er ihnen offenbar zuhört, denn mitunter kommt er noch nach Wochen auf ein Gespräch zurück. Warum er sich mit ihnen abgibt und welchen Nutzen ihre armseligen Beobachtungen für ihn haben, das bleibt ihnen freilich ein Rätsel. Aber Leute in ihrer Lage haben andere Sorgen, als sich mit solchen Fragen abzuplagen. Ein gutes Herz hat er, das wissen sie ganz sicher, und dieses Wissen genügt ihnen.
Nein, diese Stiefkinder des Schicksals spionieren nicht, denn wenn das herauskäme, wäre es um sie geschehen; nicht einmal der Graf würde sie dann schützen können. Doch eines Tages, kaum jemand hat mehr daran geglaubt, wird der Gesuchte aufgestöbert und gefesselt der Familie seines Opfers übergeben.
So etwas wiederholt sich, und die Bauern werden neugierig. Was ist das eigentlich für ein Mensch, dieser schmächtige Graf mit den glänzenden Augen? Darf man ihm vertrauen, oder sollte man sich vor ihm in acht nehmen? Bei seinem Vater hatte man gewußt, woran man war, der Sohn hingegen ist ihnen unheimlich. Er duldet keine Übergriffe, ganz gleich, von wem sie ausgehen, wird selten grob, und was er verspricht, hat er bislang stets gehalten, im Guten wie im Schlechten. Es heißt, daß er unbestechlich sei – was nicht immer ein Vorzug, auf jeden Fall aber erstaunlich ist. Ständig ist er unterwegs und mischt sich in Angelegenheiten, die sie früher unter sich geregelt haben. Seine Leute versichern, daß er bescheiden lebt, sich niemals betrinkt, die Mägde nicht behelligt. Aber was treibt ihn dann eigentlich? Und überhaupt: Ein Mächtiger ohne Laster, ist das nicht ein hölzernes Eisen?
Es verstreicht ein Jahr, in dem sie darauf lauern, daß er endlich die Maske fallen läßt, ein zweites, in dem ihr Argwohn zu bröckeln beginnt. Bereits im dritten gilt er den meisten als ein selbstloser und gerechter Mann, unbegreiflich nach wie vor, doch darum nicht weniger verehrungswürdig. Gebe Gott, daß er der Grafschaft noch lange erhalten bleibt!
Gero kannte seinen Ruf. Weit davon entfernt, gerührt zu sein, überraschte es ihn, wie schnell er sich die Zuneigung der Bauern erworben hatte. Für uneigennützig hielten sie ihn – welch ein Unsinn. Es machte ihm nun einmal keine Freude, Schätze anzuhäufen, vom Wein wurde ihm übel, und was die Frauen betraf, so war ihm schon die eigene zuviel; er hatte andere Genüsse für sich entdeckt. Ein Feind von Willkür sollte er sein, nun ja. Als Graf oblag es ihm, dafür zu sorgen, daß in diesem Gebiet nahe der
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