Brennende Fesseln
»Sie müssen jemanden aufsuchen«, sagt er.
Ich sehe ihn verständnislos an.
»Einen Therapeuten«, fügt er hinzu. »Jemanden, der Ihnen helfen kann.«
Ich setze zu einer Entgegnung an, will sagen, daß ich keine Hilfe brauche, aber selbst für mich ist es derart offensichtlich, daß ich in Schwierigkeiten stecke, daß mir die Worte nicht über die Lippen wollen. Wieder legt mir Joe die Hände auf die Schultern, und ich neige den Kopf zur Seite, um seine Finger an der Wange zu spüren. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder aufschlage, sieht Joe mich traurig an. Ich trete einen Schritt nach vorn und klammere mich an ihn, vergrabe meinen Kopf an seiner breiten Brust. Er hält mich fest, unbeholfen zuerst, aber dann tätschelt er mir den Rücken und tröstet mich, als wäre ich ein kleines Mädchen. Ich löse mich von ihm und öffne die Wagentür. »Es geht mir gut«, sage ich. »Wirklich, es geht mir gut.« Mit diesen Worten steige ich ein und fahre los.
Auf dem Nachhauseweg halte ich bei Taco Bell und nehme mir als Abendessen einen Burrito Supreme mit. Inzwischen koche ich kaum mehr, werfe nicht einmal mehr etwas aus der Gefriertruhe in die Mikrowelle. Entweder ich esse gar nichts, oder ich mache in einem Fast-food-Restaurant halt. Wie Franny werde ich zum Fast-food-Junkie. Die einzigen anständigen Mahlzeiten, die ich noch zu mir nehme, sind die, die M. für mich kocht.
Zu Hause angekommen, hole ich die Post aus dem Briefkasten, stelle die Mülltonne an den Straßenrand, weil morgen die Müllabfuhr kommt, und gehe ins Haus. Ich schalte den
Fernseher ein und esse meinen Burrito auf der Wohnzimmercouch, während ich mir die Sechsuhrnachrichten ansehe. Der Burrito ist lauwarm, die Nachrichten sind uninteressant, eine langweilige Aufzählung der Ereignisse des Nachmittags. Als ich aufgegessen habe, höre ich meinen Anrufbeantworter ab. Es ist nur eine einzige Nachricht auf dem Band, von Ian. Er sagt mir, daß er zum Abendessen ausgeht und später bei mir vorbeischauen wird. Ich frage mich, was ich bis dahin anfangen soll. Ich hatte noch nie so viel Freizeit wie jetzt. Früher war ich immer so sehr damit beschäftigt zu arbeiten, mit meinen Freundinnen auszugehen und mich mit verschiedenen Männern zu treffen, daß ich kaum einmal einen Abend allein verbrachte. Von nebenan dringen die Stimmen aus dem Fernseher zu mir herüber und geben mir das Gefühl, weniger allein zu sein. So muß es für Franny gewesen sein, denke ich, und zwar Abend für Abend. Kein Wunder, daß sie sich Mrs. Deever und M. zuwandte. Ich sehe die Post auf dem Tisch liegen und gehe sie durch. Mehrere Zeitschriften, eine Menge Werbung, die ich sofort in den Mülleimer werfe, die Telefonrechnung und die Abrechnung für meine MasterCard, ein Brief von einer Freundin aus Los Angeles und ein weiterer Brief ohne Absender, abgestempelt hier in Davis.
Ich öffne den letzten Umschlag und ziehe ein Foto heraus. Sonst ist nichts in dem Kuvert. Ich halte das Foto hoch und sehe, daß es von mir ist, vor ein paar Tagen aufgenommen. Ich stehe vor dem Nugget Market und schließe die Tür meines Honda auf, eine Einkaufstüte im Arm, die Handtasche umgehängt. Ich sehe noch einmal in das Kuvert, aber es ist leer. Warum sollte jemand so ein Foto von mir machen? Und es mir anonym schicken?
Das Telefon klingelt, und ich springe erschrocken auf. Das Bild fällt auf den Boden. Ich nehme den Hörer ab.
»Hallo«, sage ich. Niemand antwortet. Ich höre schweres Atmen. In scharfem Ton sage ich: »Habt ihr Bengels denn
nichts Besseres zu tun?« Aber niemand antwortet. Ich lausche. Die Atemzüge klingen tief und regelmäßig. Den Hörer ans Ohr geklemmt, bücke ich mich und hebe das Foto auf, um es mir noch einmal anzusehen. Was hat das zu bedeuten? Das Atmen ist immer noch zu hören. Auf dem Bild habe ich einen seltsamen Gesichtsausdruck. Woran denke ich in dem Moment? Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich an M.
M. Das Atemgeräusch ist lauter geworden, klingt aber immer noch regelmäßig, fast rhythmisch. Könnte das M. sein? Eine weitere Einschüchterungstaktik, genau wie das Foto?
Das Foto, der Anruf. Irgend etwas nagt in meinem Hinterkopf, aber ich komme nicht dahinter, was es ist. Ich betrachte das Foto, ein Bild von mir, und die Person am anderen Ende der Leitung atmet dazu in mein Ohr. Plötzlich packt mich die kalte Angst. Ich knalle den Hörer auf die Gabel.
Zwei Stunden später höre ich Ian an der Haustür. Sein Schlüssel klirrt, als er ihn
Weitere Kostenlose Bücher