Brennende Fesseln
Raum zum Atmen. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
Ich starre auf Ians Rücken. Er wirkt steif, angespannt. Ich kann die Spannung förmlich sehen, und es macht mich unglaublich traurig, daß ich an seinem Elend schuld bin. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht einmal mit Bestimmtheit, warum ich hergekommen bin. Als ich ihn gebeten habe, mir noch eine Chance zu geben, hat ein Teil von mir bereits gewußt, daß er längst zu einem Relikt aus meiner Vergangenheit geworden ist. Ich liebe ihn, und er liebt mich – aber das bedeutet nicht viel. Es ist nicht genug, um uns zusammenzuhalten, und es ist ganz sicher nicht genug, um mich von M. fernzuhalten.
Ich verlasse seine Wohnung, während er noch aus dem Fenster starrt, um mich nicht ansehen zu müssen. Ich biege auf den Freeway ein und fahre zurück nach Davis. Er sagt, er braucht Zeit zum Nachdenken, aber ich weiß, was das heißt. Es heißt, daß sich eine Beziehung langsam auflöst. Es ist eine höfliche Art, sich zu verabschieden. Ich habe diesen Satz selbst schon zu einigen Männern gesagt: Ich brauche Zeit zum
Nachdenken. Übersetzt heißt das: Ich will dich nicht mehr sehen. Ian hat natürlich jeden Grund, das zu sagen. Ich habe ihm viele Gründe gegeben, sich von mir zurückzuziehen, Gründe, von denen er gar nichts weiß. Nun hat M. seinen Willen also durchgesetzt. Ian gehört nicht mehr zu meinem Leben.
Nach dieser Erkenntnis fühle ich mich fast erleichtert, als wäre eine Last von mir genommen. Ich brauche keine von Ians Fragen mehr zu beantworten. Ich muß auch nicht mehr versuchen, mein Verhalten zu erklären. Gleichzeitig aber habe ich das Gefühl, eine Chance verpaßt, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Jetzt stehe ich am Rand des Abgrunds, und es gibt niemanden mehr, der mich noch zurückhalten könnte.
35
M.s Haustür ist nicht abgesperrt, deswegen gehe ich ohne anzuklopfen hinein. Sobald ich den Türknauf gedreht habe, höre ich Musik. Er sitzt am Flügel, hört aber sofort zu spielen auf, als ich den Raum betrete. Ich gehe zum Sofa hinüber und setze mich.
»Jetzt hast du erreicht, was du wolltest«, sage ich.
Er dreht sich zu mir herum und verschränkt die Arme vor der Brust. Die Vorhänge sind zugezogen, das Licht im Raum ist dämmrig. Die Lampe über dem Flügel strahlt auf M. herunter und betont seine Wangenknochen und sein energisches Kinn. Seine Lippen haben einen sinnlichen Schwung. Mir geht durch den Kopf, daß er als junger Mann ziemlich gut ausgesehen haben muß. Er sagt: »Ich erreiche immer, was ich will.«
Ich bin wütend und nicht in der Stimmung für seine Spielchen. »Dir habe ich es zu verdanken, daß Ian mich nicht mehr sehen will.« Ich füge hinzu: »Wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, wären Ian und ich noch zusammen.«
M. fragt: »Möchtest du einen Drink?«
Ich starre ihn an.
Er kommt herüber und setzt sich neben mich. Mit einer besitzergreifenden Geste legt er seine Hand auf mein Knie.
Ich schiebe die Hand weg, verwehre ihm seinen Besitz. Ich möchte diesen Mann für das bestrafen, was er getan hat. Ich gebe ihm die Schuld daran, daß Ian mich zurückweist, obwohl ich genau weiß, daß ich mir das selbst zuzuschreiben habe.
M. – ganz Lehrer, strenger Erzieher, Nestor, algolagnischer Pygmalion – sieht mich eine Weile schweigend an. Es ist ein einstudierter, geduldiger Blick. Dann sagt er: »Du hast nie gute Beziehungen mit Männern gehabt, Nora. Ian war da keine Ausnahme. Selbst wenn wir uns nicht kennengelernt hätten, wärst du nicht lange bei ihm geblieben. Du hast ihn nach Frannys Tod gebraucht. Mehr war er nicht für dich – eine Krücke, jemand, auf den du dich stützen konntest.«
»Er war jemand, den ich geliebt habe. Jemand, den ich immer noch liebe.«
»Du liebst ihn genausowenig, wie du die anderen Männer in deinem Leben geliebt hast. Und er könnte dich nie so befriedigen, wie ich es kann.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch, es stimmt, und du weißt es. Dir gefällt vielleicht die Vorstellung, ihn zu lieben, aber in Wirklichkeit brauchst du jemanden wie mich.«
Verärgert über seine oberflächliche Analyse, schüttele ich den Kopf. »Du weißt doch gar nicht, wovon du redest. Ian war etwas Besonderes, und ich habe ihn geliebt.«
»Du hast die Vorstellung geliebt, Nora. Mit Ian war alles so sicher. Du hast dir vorgestellt, ihn zu heiraten, zwei Kinder von ihm zu bekommen und bis an dein Lebensende glücklich zu sein. Aber das hätte nicht funktioniert. Du
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