Brennende Fesseln
ausbrechen. Das Bild in der Hand, dreht M. sich zu mir um. »Dein Freund?«
Widerwillig nicke ich.
Mit ausdrucksloser Miene betrachtet er das Foto. Schließlich fragt er: »Wie heißt er?«
Ich zucke die Achseln. »Spielt das eine Rolle?«
Er sieht mich an, wartet auf eine Antwort. Die Heizung gibt ein gedämpftes, summendes Geräusch von sich, das sich anhört, als wäre es nicht von dieser Welt. Ein Strom warmer Luft bläst aus dem Lüftungsschlitz an der Decke und schwebt über uns wie ein Geist. M. wartet noch immer.
»Ian«, sage ich. Ich nehme ihm das Bild aus der Hand und setze es mit einem scharfen Knall zurück auf die Kommode. »Sein Name ist Ian McCarthy. Und jetzt los.«
Wir gehen zu seinem Wagen, einem neuen Mercedes, schwarz und schnittig. Der Himmel ist mit einer Wolkenschicht bedeckt, so leicht und dunstig, daß sie aussieht wie locker gewobene Gaze. Er hält mir die Wagentür auf, und ich steige ein. Während er auf dem Fahrersitz Platz nimmt, frage ich: »Wo soll’s denn überhaupt hingehen?«
»Wir machen einen Ausflug. Rauf zum Lake Tahoe.« Er fährt rückwärts aus der Einfahrt und braust die Straße hinauf. Es ist kein guter Tag für einen Ausflug. Die Temperaturen sind immer noch winterlich kühl, und heute morgen hat es geregnet. Er biegt auf den Freeway ein, und ich lehne mich zurück. Wir haben eine etwa zweistündige Fahrt vor uns. Sein Wagen gleitet wie schwerelos über die Straße. Der Motor ist kaum zu hören.
Wir fahren schweigend dahin. Es beginnt leicht zu nieseln, und M. schaltet den Scheibenwischer ein. Meile um Meile huscht vorüber. Ich frage mich, wo er mich hinbringt. Ich starre aus dem Fenster auf den regenverhangenen Himmel. Wir sind jetzt in Sacramento, wo der Highway 50 von der Interstate 80 abzweigt. Der Verkehr ist nicht so dicht wie während der Woche, und obwohl M. schon schneller fährt, als erlaubt, schießen immer wieder andere Wagen an uns vorbei.
Nach einer Weile sage ich: »Während der ganzen Zeit, die
du Franny kanntest, bist du mit ihr nie irgendwo hingefahren. Du bist nie wirklich mit ihr ausgegangen.«
Er schweigt einen Moment lang, und ich befürchte schon, daß er mir keine Antwort geben wird, aber dann sagt er: »Ehrlich gesagt war ihre Gesellschaft nicht besonders anregend. Deine Schwester war ziemlich langweilig.«
Seine gefühllosen Worte machen mich wütend. Aber es kommt noch etwas anderes dazu: Ich höre in diesen Worten das Echo meiner eigenen Stimme. In ihrem Tagebuch hatte Franny geschrieben, ich hätte dasselbe über Männer gesagt. »Ich weiß, daß er mich nach einer Weile langweilen würde«, hatte ich zu ihr gesagt. Jetzt verfolgen mich diese Worte. Habe ich damals genauso gefühllos geklungen wie eben gerade M.?
»Wenn sie so langweilig war, warum hast du dich dann immer wieder mit ihr getroffen?« frage ich. »Du hättest ganz andere Frauen haben können. Warum ausgerechnet Franny? Offensichtlich war sie doch gar nicht dein Typ.«
»Ich habe dir schon mal gesagt, daß ich mich mit ihr getroffen habe, um meinen Spaß zu haben.« Er wirft mir einen schrägen Blick zu. »Ich wollte herausfinden, was ich mit ihr alles machen konnte.«
»Was du mit ihr alles machen konntest«, wiederhole ich stupide.
Ich brauche Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Erst als ich sicher bin, meine Gefühle unter Kontrolle zu haben, spreche ich weiter. Leidenschaftslos, als würde ich über eine Fremde sprechen, sage ich: »Du wolltest sie beherrschen – das willst du damit doch sagen, oder? Sie war eine leichte Beute für dich. Du mußtest dich nicht besonders anstrengen, um sie dir zu unterwerfen, sie zu korrumpieren. Meinst du nicht, daß du dir ein geeigneteres Opfer hättest suchen sollen? Jemanden, der dir eher …« Ich zögere.
»Gewachsen war?« fragt er, als ich nicht weiterrede. »Du meinst, jemanden wie dich?«
Ich ignoriere diese Bemerkung.
Er fährt ein paar Meilen schweigend weiter, dann sagt er: »Du verstehst das falsch. Die Unterwerfung, die Macht – das ist ein Teil davon, aber nicht alles. Schon, als ich sie am Putah Creek das erste Mal sah, lange bevor sie mich kannte, spürte ich ihre Einsamkeit. Deswegen habe ich sie fürs Wintersemester zu meinem Projekt gemacht. Ich wollte sie lehren, jemanden zu lieben – so sehr zu lieben, daß sie alles tun würde, um diese Liebe zu behalten. Ich wollte wissen, wo ihre Grenzen lagen. Wie weit sie gehen würde.«
Einen Moment lang bin ich sprachlos. Er spricht über Franny wie
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