Brennende Fesseln
eine Weile geschlossen lassen«, sagt M. »Das Licht wird dir extrem grell vorkommen.«
Trotz seiner Warnung mache ich die Augen auf, sobald sie von dem Verband befreit sind. Ich blinzle, kneife die Augen zusammen, um sie sofort wieder zu öffnen, diesmal etwas langsamer. Er fährt fort, die Bandagen zu entfernen. Nacheinander legt er Nase, Wangen, Mund und Hals frei.
»Mund auf«, sagt er und zieht einen Schaumgummiball heraus. Worte der Wut liegen mir auf der Zunge, aber zu meiner eigenen Überraschung beginne ich zu zittern, statt ihn zu beschimpfen. Er wiegt meinen Kopf an seiner Brust.
»Schhh«, macht er. »Jetzt ist es ja vorbei. Ich werde dir nichts tun.« Er stellt mich auf und fängt an, meinen Körper auszuwickeln, Schicht um Schicht. Ich sage noch immer nichts, zum einen, weil ich völlig erschöpft bin, zum anderen, weil mein gesunder Menschenverstand mir rät, vorerst den Mund zu halten: Ich möchte sicher sein, daß ich ganz frei bin, bevor ich auf ihn losgehe. Noch stehe ich so wackelig auf den Beinen, daß ich leicht schwanke und mich an M. lehnen muß, um nicht umzufallen. Während ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse, wird mir klar, daß ich die ganze Zeit im Arbeitszimmer war. In einer Ecke des Raumes steht eine lange Holzkiste, neben der Hammer und Nägel auf dem Boden liegen.
»Ich habe das aus mehreren Gründen getan«, sagt M. Er ist gerade mit einer Binde fertig und beginnt die nächste aufzurollen. Langsam arbeitet er sich nach unten vor. Er befreit meine Schultern, meine Brust, meine Taille. »Ich wollte dir meine Vertrauenswürdigkeit beweisen. Du warst so fest davon überzeugt, daß ich deine Schwester getötet habe und auch dir etwas antun könnte – das sollte dich eigentlich vom Gegenteil überzeugen. Ich hatte jede Gelegenheit, dir etwas anzutun. Ich hätte dich sogar töten können, wenn mir danach gewesen wäre, aber ich habe es nicht getan. Vielleicht hörst du jetzt endlich auf zu glauben, daß ich Franny umgebracht habe – oder ziehst zumindest in Betracht, daß jemand anders sie ermordet haben könnte.«
Auf dem Boden liegen zwei Häufchen aufgewickelter Binden. Offenbar hat er zwei verschiedene Breiten verwendet. Als er mit meinem Oberkörper fertig ist, befreit er meine Hüften und Oberschenkel. Ich fühle mich immer noch schwach und unsicher auf den Beinen. M. legt mich zurück auf die Couch, schiebt mir ein Kissen unter den Kopf, legt meine Beine hoch und fängt an, sie auszuwickeln.
»Aber das war nur einer der Gründe. Du wolltest mehr über
Franny erfahren – dies war die perfekte Gelegenheit. Du bist sozusagen in ihre Haut geschlüpft und hast dieselbe Erfahrung gemacht wie sie. Ich kann dir nur so viel sagen, Nora: Um zu verstehen, was Franny durchgemacht hat, mußt du es selbst erleben. Wenn ich dir einfach erzählt hätte, wie ich sie mumifiziert habe, dann hättest du nie verstanden, was diese Erfahrung eigentlich bedeutet. Du hättest nicht gewußt, welche tiefen Gefühle dabei hochkommen. Du mußt das so sehen: Durch die heutige Episode hast du eine der Lücken in Frannys Tagebuch gefüllt, indem du sinnlich erfahren hast, was sie erlebt hat.«
Meine Hände kleben nicht mehr an meinen Oberschenkeln fest, obwohl beide Arme noch fest umwickelt sind. Ich bewege sie vorsichtig. Sie fühlen sich steif an. Nachdem er meine Beine von der äußeren Umhüllung befreit hat, sehe ich, daß das rechte Bein noch einmal separat umwickelt ist und daß er meine Beine an den Knöcheln und knapp über den Knien mit Schnur zusammengebunden hat. Er löst die Schnur und fängt an, das rechte Bein auszuwickeln. Als er fertig ist, strecke ich beide Beine. Mein nackter Körper ist kalt und vom langen Stillhalten steif. M. breitet eine Decke über mich und hebt dann meinen rechten Arm an, um den Verband zu lösen.
»Der Hauptgrund aber war, daß es mir einfach Spaß gemacht hat.«
Ich starre ihn an und öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber er unterbricht mich.
»Noch nicht«, sagt er und macht sich an den anderen Arm. »Sag noch nichts. Ich weiß, daß du wütend bist und mich eine Weile beschimpfen möchtest, aber alles zu seiner Zeit. Erst mal habe ich eine Belohnung für dich. Ein Geschenk, das dich für deine Qualen entschädigen soll.« Er nimmt den letzten Verband ab und legt ihn auf den Haufen zu den anderen Rollen. Auf dem Boden müssen etwa zwei Dutzend aufgewickelte Binden liegen. Ich bewege mich unter der Decke, merke, wie
das steife Gefühl aus
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