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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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meinem Körper weicht. Überraschenderweise verspüre ich nicht den Wunsch, aufzustehen oder nachzusehen, wieviel Uhr es ist. Ich habe nicht einmal Lust, meinem Ärger Luft zu machen. Ich fühle mich ausgelaugt, erschöpft und sehr in mich zurückgezogen, als befände ich mich auf einer Reise nach innen, ins Innere meines Kopfes. Ich bin noch einmal davongekommen. Im Moment habe ich keinen anderen Wunsch, als unter der warmen Decke liegenzubleiben, wo ich mich sicher fühle.
    M. geht zu seinem Schreibtisch hinüber und kommt mit einem Stapel Blätter zurück. »Das hier hat Franny mir kurz vor ihrem Tod gegeben. Es ist eine Art Kurzgeschichte. Über sie selbst, als sie vierzehn war. Die Geschichte spielt ein paar Monate bevor eure Eltern starben, bevor sie zurück nach Sacramento zog, um bei dir zu leben. Ursprünglich war es ein Teil ihres Tagebuchs, aber dort hat sie es nachträglich gelöscht. Dieses Exemplar wollte sie auch zerstören, aber das habe ich nicht zugelassen. Ich habe es in meinem Büro in der Uni aufbewahrt.«
    Er reicht mir die Papiere. »Du wirst darin eine Menge über Franny erfahren«, sagt er. »Ich glaube, es ist eine angemessene Belohnung für das Martyrium, das du durchgemacht hast.« Mit diesen Worten verläßt er den Raum. Ich werfe einen Blick auf die erste Seite und beginne zu lesen.

15
Frannys letzter Kampf
    von Frances Tibbs
     
    Das erste, was den Leuten an mir auffällt, ist mein kurzes Haar. Es ist wirklich kurz, kaum mehr als einen Zentimeter lang, und es steht gerade und stoppelig nach allen Seiten ab. Das wäre an sich nicht so ungewöhnlich, wenn ich nicht ein Mädchen wäre, und selbst bei einem Mädchen wäre es nicht so ungewöhnlich, wenn ich noch in Davis, Kalifornien, wohnen würde, einem Ort, wo sich niemand groß Gedanken darüber macht, wie man aussieht.
    Aber inzwischen wohnen meine Eltern und ich in Montana, wo ein Mädchen, das wie ein Junge aussieht, eher die Ausnahme ist. Als ich anfing, mein Haar zu schneiden – erst ein paar Zentimeter, zwei Wochen später noch mal ein paar Zentimeter an den Seiten, dann fünf weitere Zentimeter, als ich ein schlimmes Wochenende hatte, und noch mal fünf, als der Regen kam –, als ich also anfing, mir die Haare zu schneiden, reagierte Mom mit keinem Wort darauf. Es war, als würde sie es überhaupt nicht bemerken, als wäre ich schon die ganzen vierzehn Jahre meines Lebens beinahe kahlköpfig gewesen. Meinem Dad dagegen fiel es auf. Er sagte, ich sähe richtig vergammelt aus mit meiner Halbglatze, meinen ewigen Jeans und der glasperlenbesetzten Jacke, die mit Federn, Lederbändern und Pferdehaar zugemacht wurde. Er sagte, ich solle mein Haar nachwachsen lassen, aber dann vergaß er es wieder, bis wir sechs Wochen später beim Abendessen saßen. Plötzlich sah er von seinem Teller auf und sagte: Habe ich dir nicht gesagt, daß du mit dem Haareschneiden aufhören sollst? Dann schob er sich eine Gabel voll Essen in den Mund, kaute darauf herum und vergaß das Ganze ein zweites Mal, während
Mom einfach bloß dasaß und die Karotten auf ihrem Teller herumschob, ohne uns zu beachten. Sie sah nichts, und sie hörte nichts, und es machte mich wütend, daß sie kein Teil unserer Familie mehr war, und beinahe hätte ich gesagt: Hör auf, mit dem Essen zu spielen. Aber da ich das Kind war und sie die Mutter, sagte ich nichts.
    Als Dad mir eröffnete, daß wir nach Montana umziehen würden, dachte ich als erstes: So also wird mein Leben von nun an sein – Montana. Und ich stellte mir Dinge vor, die man in Kalifornien nicht sieht, altmodische Sachen, die es nur auf dem Land gibt, staubige Wege, Gehsteige aus Holzplanken, Kinder mit breitrandigen Hüten und ausgebleichten Overalls, Kinder, die keine Ahnung haben von Day-Glo-Schnürsenkeln oder MTV oder Madonna oder Joan Jett and the Blackhearts. Montana kam mir so weit vom Leben entfernt vor, wie es nur ging, weit weg von den neonerleuchteten Einkaufszentren, den Videoarkaden, den Pommes mit Chili und Käse, die es bei Murder Burger gab, und weit weg von Joey Walker mit seiner schwarzen Lederjacke und seinen hohen Reeboks, dem Jungen, von dem ich träumte und den ich am Wasserturm von Davis einmal beinahe geküßt hätte. Aber schon bevor wir nach Montana gingen, hatte sich das alles für mich vollkommen verändert, und inzwischen würde mich Joey Walker gar nicht mehr erkennen – nicht mit meinem borstigen Haar.
    Das hat meine Mom zu mir gesagt, bevor wir hergezogen sind: Montana hat

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