Brennende Fesseln
sanfte, wellige Ebenen, und man kann seinen Blick ewig in die Ferne schweifen lassen, ohne etwas anderes zu sehen als klaren blauen Himmel und endlose braune Hügel. Mein Vater sagte bloß, daß ihm die nebligen Winter allmählich auf die Nerven gingen und daß es Zeit sei für eine Veränderung. Aber ich weiß, warum wir in Wirklichkeit umgezogen sind, auch wenn sie es nicht gesagt haben: um zu vergessen. Vielleicht haben sie geglaubt, daß wir hier noch einmal neu anfangen könnten – daß sich die Dinge zwischen den welligen
Hügeln verlieren würden, daß sie von den weiten, freien Flächen auf eine Weise aufgesaugt würden, wie es in Davis nie möglich gewesen wäre, Davis mit seinem tiefhängenden Januarnebel, der alles, selbst die Erinnerungen, unter seiner dichten grauen Dunstschicht gefangen hielt.
Aber selbst ein strahlend blauer Himmel hilft da nichts. Egal, was man tut, egal, wo man hingeht, die Erinnerungen sind immer noch da und kommen hoch, wenn man es am wenigsten erwartet. Es ist wie mit den Autos in Montana. Die Leute hier wissen nicht, was sie mit ihren Autos anfangen sollen. Auf dem Land – und hier ist praktisch überall Land – kann man endlos dahinfahren und nichts als Felder sehen, vielleicht mal ein oder zwei grasende Kühe, aber plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein verrosteter Chevy auf, bei dem eine Tür fehlt, oder vielleicht ein alter Ford-Lieferwagen mit kaputten Scheinwerfern. Meistens liegt der Wagen am Straßenrand in einem Graben, und zwar – das muß man sich mal vorstellen – auf dem Dach, mit den Reifen nach oben. Jedesmal, wenn wir an einem solchen Wagen vorbeifahren – meine schweigsamen Eltern vorn, ich auf dem Rücksitz, den Blick aus dem Fenster gerichtet –, muß ich an ausgestorbene und gefährdete Tierarten denken, und während der nächsten paar Meilen frage ich mich dann, was das Ganze wohl soll. Es hat bestimmt etwas zu bedeuten, aber ich weiß nicht, was. Bei solchen Gelegenheiten wünsche ich mir immer, Nora, meine ältere Schwester, wäre hier. Sie könnte mir die Sache mit den Autos bestimmt erklären, aber da sie nicht da ist, werde ich das Rätsel wohl selbst lösen müssen. Schließlich komme ich zu dem Schluß, daß das einfach eine Eigenart Montanas ist, genau wie der Nebel eine Eigenart von Davis ist. Beides ist dazu da, einem Dinge ins Gedächtnis zu rufen, an die man nicht erinnert werden möchte.
Gleich nachdem wir hergezogen sind, vor etwa einem Jahr, beschloß ich, mich in der Schule mehr anzustrengen, um es
meinen Eltern leichter zu machen. Ich lerne jetzt viel mehr als früher, und je kürzer meine Haare werden, desto besser werden meine Noten. Inzwischen bin ich eine Einser-Schülerin, und wenn ich meiner Mutter mein Zeugnis zeige, dann lächelt sie verträumt und sagt: Das ist aber schön, Liebes, und dann sieht sie weg, und ich weiß, daß sie mich und meine Einsen schon wieder vergessen hat. Nur eine Sache vergißt sie nie: daß Billy, mein kleiner Bruder, tot ist.
Am meisten lerne ich für Geschichte. In Mr. Kendalls Stunden haben wir die Prärieindianer durchgenommen. Da habe ich zum ersten Mal von Sitting Bull gehört. Er war der große Indianerführer, der all die verschiedenen Indianerstämme vereint hat, auch wenn es für ihn am Ende nicht so gut ausging. Jedesmal, wenn Dad mir jetzt befiehlt, meine Glasperlenjacke auszuziehen oder mit dem Haareschneiden aufzuhören, antworte ich bloß, daß ich an einem Schulprojekt über die Sioux-Indianer arbeite, und dann grunzt er irgend etwas Unverständliches und geht ins Wohnzimmer hinüber, um fernzusehen. Aus irgendeinem Grund scheint ihm meine Antwort einzuleuchten. Vielleicht glaubt er, daß in meiner Klasse alle Schüler kahlköpfig herumlaufen. Tun sie aber nicht. Die anderen lachen über meinen Stoppelkopf, meine Glasperlenjacke und mein Fransenhemd. Sie nennen mich einen Möchtegern-Sioux-Krieger. Häuptling Sitting Bullshit. Ich weiß natürlich, daß ich weder ein Junge noch ein Indianer bin, und ich habe auch nie behauptet, einer zu sein. Aber es gefällt mir, so an die Dinge heranzugehen, wie Sitting Bull es getan hat. Am liebsten würde ich wie er mit Federschmuck und Lederhose herumlaufen. Sitting Bull war ein entschlossener Mann. Man braucht sich bloß ein Bild von ihm anzusehen, um zu wissen, daß er sehr stark war. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, seine Feinde festzuhalten, dann hatten sie keine Chance, ihm zu entwischen. Er legte einfach seine Finger um
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