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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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ihre Arme – Finger, die aussahen wie die Klauen eines Adlers
- und drückte zu, grub seine Nägel in ihre Haut, ihr Fleisch, ja sogar in ihre Knochen, wenn es nicht anders ging, und hielt sie fest, solange es nötig war. Sitting Bull ließ niemanden im Stich.
    Ich glaube, daß ich von den Sioux eine Menge lernen kann. Wie man stark und tapfer wird, solche Dinge. Tapferkeit war für sie so ziemlich das Wichtigste. Sie teilten die Welt in Schwarz und Weiß ein: Wenn man nicht tapfer war, dann war man ein Feigling. So einfach war das. Sie stritten nie über Feinheiten oder Grautöne – besser, als Held zu sterben, denn als Feigling zu leben. So lautete ihr Motto. Aus diesem Grund zogen es die Sioux-Krieger vor, ihre Feinde im Nahkampf zu erledigen, statt sie aus der Ferne zu töten. Es bewies, daß sie tapfer waren, weil sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Hinter einem Felsen Stellung zu beziehen und einen Crow oder Pawnee mit einem Pfeil zu erschießen, das konnte jeder. Aber auf ihn zuzugehen und ihn zu berühren, das war tapfer. Es war ein Zeichen von Mut, und derjenige Mann, der bei einem Kampf als erster einen Feind berührte, bekam einen Punkt. Auf diese Weise lernten die Sioux, im Angesicht einer Gefahr nicht zurückzuschrecken. Und genau das lerne auch ich von Sitting Bull.
    Einmal oder zweimal die Woche gehe ich nach Schulschluß zur High-School hinüber und sammle selbst ein paar Punkte. Ich trage dann Jeans und eine weite Jacke, damit sie mich für einen Jungen halten. Zusätzlich ziehe ich mir eine schwarze Skimütze übers Gesicht, so daß nur mehr meine Augen zu sehen sind, die aus schmalen Sehschlitzen starren. Ich beobachte das Football-Team, gehe an die Seitenlinie und ramme diese großen Jungs. Ich knalle gegen ihre Schultern oder trete ihnen ans Schienbein, und meistens sagen sie dann: Paß doch auf, wo du hinläufst, du Zwerg. Manchmal schubsen sie mich, als wäre ich ein Spieler der gegnerischen Mannschaft. Ein Feind. Ich mache das nun schon fast sieben Monate, beim Baseball, beim Basketball und jetzt beim Football, je nach Saison.
Ich bin der Geist eines Sioux, und ich plane meine Angriffe, wenn der Coach auf der anderen Spielfeldseite ist und mir den Rücken zukehrt: Bis jetzt hat er mich noch nie gesehen. Letzte Woche zum Beispiel. Oder vorletzte Woche. Es läuft immer gleich ab. Ich warte, bis all diese Körper sich in der Nähe der End-Zone niederkauern, warte, bis das Spiel anfängt und jemand an die Seitenlinie kommt. Der Coach hat seine Pfeife zwischen den Lippen, bereit, bei jedem Foul zu pfeifen. Plötzlich sehe ihn. Diesmal ist es einer der Angriffsspieler, der übers Feld gewalzt kommt. Er ist groß wie ein Riese, und bei jedem Schritt – das ist wirklich wahr, ich schwöre es – bebt der Boden. Nummer 63. Ich bin schon ein paarmal mit ihm zusammengerumpelt. Er nimmt seinen Helm ab, und zum Vorschein kommt ein blonder, nordischer Kopf, der direkt auf den Schultern sitzt, ohne eine Spur von Hals. Sein Bauch ragt vor, und unter seinem grünen Trikot hängen weiße Polster heraus, und ich denke: Dieses Sofa gehört aufgemöbelt. Er stolziert an der Seitenlinie auf und ab, bleibt stehen, dehnt seine Kniesehnen und kniet sich schließlich hin, um einen Schnürsenkel zu binden. Er weiß nicht, daß ein Angriff bevorsteht. Ich stürme hinter der Zuschauertribüne hervor. Wumm. Beweg sofort deinen Arsch von diesem Feld! schreit Nummer 63, als ich gegen sein Schulterpolster knalle. Dabei hebt er den rechten Arm, dessen Unterseite so cremeweiß ist, daß sie überhaupt nicht gefährlich aussieht; also glaube ich, dieses Mal ungestraft davonzukommen, aber dann versetzt er mir einen solchen Rückhandschlag, daß ich über das Gras in den Dreck fliege und mir an einem Stein die Lippe aufschlage. Ich ziehe mich genau in dem Augenblick hinter die Zuschauertribüne zurück, als der Coach Nummer 63 ins Leere schreien und mit den Armen fuchteln sieht, als wäre er ein Fluglotse, der den Flugzeugen zuwinkt. Mich sieht der Coach nie. Hör mit dem Herumhampeln auf, schreit er Nummer 63 an, du sollst das verdammte Spiel im Auge behalten. Daraufhin
wird Nummer 63 noch wütender, weil er genau weiß, daß ich da bin und hinter der Tribüne hervorspähe. Meine Lippe schmeckt nach Blut, aber das macht mir nichts aus, weil ich durch jede Feindberührung stärker und tapferer werde. Ich lerne, meine Verletzungen ohne Klagen zu ertragen, ja sogar zu begrüßen. Meine blauen Flecken werden zu Auszeichnungen,

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