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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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mein Blut zu einem Symbol. Ich klopfe die Erde von meinen Jeans, wische mir das Blut von der Lippe und gebe mir einen weiteren Punkt.
     
    Schon bevor wir nach Montana zogen, war mir das Land der Sioux vertraut, obwohl ich es zu der Zeit noch nicht wußte. Meine Eltern sind Frischluftfanatiker, und in den Ferien fahren wir immer in irgendeinen Nationalpark zum Campen. Wir haben schon das ganze Land mit dem Zelt bereist. Yosemite, King’s Canyon, Bryce, Badlands, und wie sie alle heißen. Immer nur wir vier, Mom, Dad, ich und Billy, weil Nora schon älter ist und einen Job hat und deswegen nicht mehr mitkommt. Bei unserer letzten Fahrt, vor über einem Jahr, fuhren wir in den Flaming Gorge nach Wyoming. Schoschonengebiet, wie ich inzwischen weiß. Euch Kindern wird es dort gefallen, sagte Mom auf der Hinfahrt. Die Landschaft ist majestätisch. Berge, die sich bei Sonnenaufgang purpurrot färben. Bonbonfarbene Berge. Berge, daß euch die Luft wegbleibt.
    An unserem ersten Tag dort standen wir ganz früh auf, nur damit wir uns diese berühmten Berge ansehen konnten. Die Luft war so kalt, daß sie beim Reden Wolken bildete, und wir waren alle in Kapuzensweatshirts und lange Hosen gehüllt. Mom packte mich, und wir sprangen lachend auf und ab, um uns aufzuwärmen. Wir sahen in unseren neuen rosa Jogginganzügen einfach albern aus – damals zog ich mich noch nicht wie ein Junge an –, während Dad und mein Bruder wie normale Menschen Jeans trugen. Dad warf Billy einen vielsagenden Blick zu, schnitt Grimassen in unsere Richtung und verdrehte
die Augen, als wollte er sagen: Frauen! Dann legte er die Hand auf Billys Schulter, und sie sahen beide zu den Bergen hoch und taten so, als würde ihnen die kalte Luft nichts ausmachen.
    Und Mom hatte recht: Vor unseren Augen färbten sich die Berge rosa, purpurrot und orange. Es waren brausefarbene Berge, Berge, deren Gipfel ich so schnell wie möglich besteigen mußte. Also machten wir uns auf den Weg. Ich rannte voraus. Im Laufen traktierte ich die Büsche neben dem Weg mit einem Stock und sog gierig den blumigen Duft ein, der jedesmal in die Luft explodierte, wenn ich einem Busch einen Schlag versetzte. Ich hörte Billy hinter mir herkeuchen, und als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich, wie die Luft in kleinen, frostigen Wolken aus seinem Mund quoll, während er den Berg hinaufstolperte, bemüht, mit mir Schritt zu halten. Im Laufen schlug er die Hände aneinander, um sich warm zu halten. Seine Wangen hatten von der kalten Morgenluft rote Flecken. Er war klein und dürr, einen ganzen Kopf kleiner als ich. Sein Gesicht war voller Sommersprossen, und sein dichtes dunkles Haar fiel ihm in langen Strähnen ins Gesicht, so daß man nie seine Augen sehen konnte. Kinder, paßt auf, wo ihr hintretet! rief Dad hinter uns her. Ich rannte Billy davon, versuchte, ihn abzuhängen. Er war ein Jahr jünger als ich und hing immer an meinem Rockzipfel, wenn ich allein sein wollte. Seit einem Jahr war er krank, er konnte nicht mehr besonders schnell laufen, war kleiner als die anderen Jungs in seinem Alter, viel kleiner, und es ging mir allmählich auf die Nerven, daß Mom und Dad ständig um ihn herumscharwenzelten, weil sie Angst hatten, daß er noch kränker werden könnte. Warte! rief er. Warte auf mich, Franny! Aber ich warf bloß meinen Stock in die Luft und rannte noch schneller.
     
    Als wir noch in Davis wohnten, habe ich regelmäßig Zeitungen ausgetragen. In Montana mache ich etwas anderes:
Fahrräder stehlen. Einem Feind ein wertvolles Pferd zu stehlen war für die Sioux eine weitere Möglichkeit, ihre Tapferkeit zu beweisen, eine weitere Möglichkeit, Punkte zu sammeln. Wenn ich wollte, könnte ich es sogar mitten in der Nacht tun. Mom und Dad würden mich gar nicht vermissen. Während ich in die offene Garage eines Nachbarn schleichen würde, würden die Leute im Haus gemütlich in ihren Betten liegen und sich keine Sorgen über Verbrecher oder Sioux-Geister machen. Währenddessen würde ich wie eine Katze herumschleichen und nach einem Zehngang-Rennrad suchen, ganz vorsichtig, um ja nicht gegen die Mülltonne zu rumpeln, irgendwelche Kisten umzustoßen oder die Taschenlampe fallen zu lassen. Dann würde ich das Rad nehmen und wegfahren, ganz einfach, eins, zwei, drei. Einfach so. Aber das wäre keine richtige Mutprobe. Es wäre zu leicht. Statt dessen sammle ich meine Punkte in der Schule, bei Tageslicht. Ich verlasse unter irgendeinem Vorwand das Klassenzimmer – kaue

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