Brennende Fesseln
beispielsweise an meiner Nagelhaut herum, bis es blutet, hebe dann die Hand und sage: Ich habe mich in den Finger geschnitten. Kann ich mir beim Hausmeister ein Pflaster holen? –, und dann mache ich einen Abstecher zu den Rädern, bevor ich mir den Finger verarzten lasse. Ich habe die Räder schon vor dem Läuten der Schulglocke begutachtet, so daß ich bereits weiß, welches ich nehmen werde, welches nicht abgeschlossen ist, welches das wertvollste ist. Ich sehe erst nach rechts, dann nach links, und wenn die Luft rein ist, greife ich zu. Ich fahre hinunter zum Fluß und werfe das Rad ins Wasser. Dann laufe ich zurück zum Hausmeister, lasse mir das Pflaster geben, sage: Ja, Sir, ich werde in Zukunft vorsichtiger sein, schaue auf die Uhr und renne zurück in meine Klasse. Schweißgebadet lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, bereit, der Lehrerin eine Ausrede aufzutischen, falls es nötig sein sollte: Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, aber der Hausmeister hatte so viel zu tun, ich mußte noch aufs Klo, etc., aber meistens
brauche ich keine Ausrede, weil ich schließlich eine Einser-Schülerin bin, ein Vorbild, dem man nacheifern sollte, vielleicht ein bißchen exzentrisch, was den kahlen Kopf und das alles angeht, aber damit war zu rechnen. Schließlich komme ich aus Kalifornien.
Jedesmal, wenn wieder ein Rad fehlt, wird es gefährlicher, und jedesmal, wenn ich ein Rad stehle, komme ich Sitting Bull einen Schritt näher. Ich habe vor, den ganzen Fluß mit Rädern zu füllen. Anders als die Sioux behalte ich meine Beute nicht, aber der Effekt ist derselbe. Ich bin in das Lager des Feindes eingedrungen und habe überlebt. Der Beweis dafür liegt auf dem Grund des Flusses.
Manchmal denke ich an den Sommer und frage mich, ob wir je wieder zum Campen fahren werden. Ich hoffe es, aber wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm. Mir haben diese Urlaube immer Spaß gemacht, obwohl Billy so eine Nervensäge war. Unser Ausflug zum Flaming Gorge war dafür typisch – ich renne los, und er muß hinterher. Zwischen den Bäumen hindurch hörte ich seine Stimme, eine weinerliche Stimme, die mich dazu bringen wollte, langsamer zu gehen. Warte auf mich, Franny! rief er immer wieder. Warte auf mich! Der Pfad schlängelte sich zu den Gipfeln empor, wurde immer schmaler, je höher es hinaufging. Die Bäume wurden spärlicher, und die Luft roch nach trockenen Blättern und Staub. Als ich den Rand eines Abhangs erreichte, brachen unter mir ein paar lockere Steinbrocken weg. Ich hörte sie tief in den Canyon fallen. Ich ging weiter, immer dem Weg nach, bis mir so warm war, daß ich die Ärmel hochschieben mußte. Ich überlegte, wann die Kälte verflogen war. In dem Moment hörte ich Billys Schrei, eher ein überraschtes Kreischen und dann das dumpfe Geräusch fallender Felsbrocken. Wahrscheinlich ist er gestolpert, dachte ich. Ich konnte mir genau vorstellen, wie er schmollend mitten auf dem Weg saß, die Jeans an den Knien
abgewetzt, das erbsengrüne Sweatshirt dreckverschmiert. Aber vielleicht hatte er einfach bloß Angst, weil er allein war und sich gerade ausmalte, von Bären eingekreist zu werden. Zögernd überlegte ich, ob ich zurücklaufen sollte, wog das Für und Wider gegeneinander ab. Ich wollte unbedingt auf den Gipfel des Berges, aber wenn ich nicht zurückging, würden Mom und Dad später an mir herumnörgeln. Kannst du nicht rücksichtsvoller sein? würden sie sagen. Sei doch zur Abwechslung mal nett zu ihm – es wird dich nicht umbringen, ab und zu mal mit deinem kleinen Bruder zu spielen. Ich wußte genau, wie das lief.
Ich beschloß, zu Billy zurückzugehen, ließ mir aber Zeit, weil ich so wütend darüber war, daß er mir immer den Spaß verdarb. Wenn er nicht mit mir Schritt halten konnte, dann sollte er doch bei Mom und Dad bleiben. Ich hörte ihn schluchzen und etwas rufen, das ich nicht verstand, und als ich um die letzte Kurve vor dem Abhang bog, sah ich ihn an der Stelle hinunterrutschen, wo der Weg nachgegeben hatte. Bestimmt hatte Billy auf die konfettifarbenen Berge und nicht auf den Weg geachtet. Das war das erste, was mir durch den Kopf schoß. Dann fing ich an, ihn anzuschreien, ihm zu sagen, daß er in Zukunft besser aufpassen solle. Erst dann erfaßte ich den Ernst der Lage: Gleich würde er über den Rand des Abgrunds stürzen. Irgendwann mußte er sein Sweatshirt ausgezogen haben, den er trug es um die Taille gebunden. Er weinte, seine Arme waren von den Steinen schon ganz
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