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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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aufgeschürft, und seine Hände versuchten verzweifelt, an einem Felsen oder Erdbrocken Halt zu finden, aber er rutschte immer weiter. Ich weiß noch, daß ich nach meinem Dad gerufen habe – ist es nicht seltsam, daß Eltern immer wissen, welche Schreie sie ignorieren können und welche sie beachten müssen? –, und ich hörte ihn und Mom in Panik den Weg heraufrennen; immer wieder rief Mom unsere Namen. Aber als sie oben ankamen, war Billy schon abgestürzt.

    Die Sioux glaubten an Geister. Hokuspokus, Abrakadabra, Schreckgespenster, Erscheinungen, was auch immer. Die meisten Leute hätten Angst vor Geistern und würden versuchen, sie zu verjagen, aber nicht so die Sioux. Sie waren keine Geisterjäger. Ganz im Gegenteil – sie wollten sogar, daß die Geister ihnen einen Besuch abstatteten. Freundliche Geister, so glaubten die Sioux, konnten einem Mann helfen, indem sie ihm Macht verliehen. Und wenn ein Mann Macht hatte, dann hatte er alles: Weisheit, Zufriedenheit, Kraft beim Kämpfen, Schutz vor Krankheiten und darüber hinaus so ziemlich alles, was ein Krieger je brauchen konnte. Aber wenn ihm die Geister keine Macht verliehen, war er zum Scheitern verurteilt. Macht war damals lebensnotwendig, und man bekam sie durch Visionen, in Form von Träumen. Kurz vor der Schlacht am Little Bighorn erschienen die Geister Sitting Bull im Traum und erzählten ihm vom bevorstehenden Überfall durch General Custer. Soldaten werden in euer Lager einfallen, erklärten ihm die Geister, wie Heuschrecken, die vom Himmel fallen. Und so war es dann auch.
    Macht ist ein wichtiges Gut, vor allem, wenn man vierzehn ist und Punkte sammelt. Ich arbeite an meinen Träumen, um mehr Macht zu bekommen, aber an die meisten kann ich mich nicht erinnern – bloß an den einen über den Getränkeladen, weil ich den schon mehr als einmal geträumt habe und jedesmal davon aufwache. Ich träume, daß ich einen Getränkeladen überfallen habe und den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen muß. Während ich in meiner Zelle auf und ab gehe, denke ich: Wenn ich doch bloß noch einmal von vorn anfangen könnte, ich würde diesen Laden bestimmt nicht wieder ausrauben. Ich möchte eine zweite Chance, denke ich, ich möchte alles anders machen. Ich meine, was habe ich von dem Geld, wenn ich es nicht ausgeben kann? Dann wache ich auf, fühle mich immer noch wie erschlagen und weiß nicht genau, wo ich bin. Ich habe das Gefühl, in der Falle zu sitzen, als wäre
mein Leben ruiniert, bloß, weil ich diesen blöden Laden überfallen habe. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und sehe meine Jacke auf dem Boden, daneben einen Stapel Kassetten – Prince, Michael Jackson, Boy George und Culture Club –, ein Ghostbusters-Poster, das mit Reißnägeln an der Wand befestigt ist, und plötzlich wird mir klar, daß ich in meinem eigenen Bett bin, nicht im Gefängnis, und ich fühle mich erleichtert, weil ich eine zweite Chance bekomme. Eine Weile liege ich bloß da und fühle mich gut, aber dann denke ich: Es spielt überhaupt keine Rolle, wie ich mich fühle, weil das alles nie wirklich passiert ist. Es war nur ein Traum. Jedenfalls weiß ich, warum ich immer vom Gefängnis träume – man braucht kein Klapsdoktor zu sein, um das zu verstehen.
     
    Als Mom und Dad den Abhang erreichten, war Billy schon tot. Ich stand ein Stück weiter oben, erzählte ich ihnen, als ich ihn plötzlich fallen hörte. Eines aber habe ich Mom und Dad nicht erzählt: Ich habe ihn fallen lassen. Als ich ihn rutschen sah, schrie ich nach Dad, legte mich flach auf den Bauch, robbte so weit zu Billy hinüber, wie ich konnte, und griff nach seinen Händen. Der silberne Krankenhausarmreif, den er immer um das linke Handgelenk trug, glitzerte in der Sonne. Halt durch, sagte ich. Dad wird gleich hier sein. Und einen Moment lang war alles ruhig, und ich wußte, daß Billy es schaffen würde. In dem Moment beschloß ich, daß ich ihm beim nächsten Wanderausflug nicht davonlaufen würde. Die Sonne schob sich über die Berge, die Luft hatte sich erwärmt, und ich brauchte Billy bloß festzuhalten, bis Dad da war. Ich hörte Mom und Dad den Weg heraufstürmen, sie machten einen Lärm, daß es sich anhörte, als würden sie ein ganzes Reiterheer mitbringen. Felsbrocken rollten an meinem Kopf vorbei. Der Boden bewegt sich, dachte ich, aber plötzlich wurde mir klar, daß es gar nicht der Boden war, sondern ich – wir rutschten beide, und ich konnte nichts dagegen tun. Billy

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