Brennende Fesseln
weinte wieder,
und ich wußte, daß ich eins seiner Handgelenke loslassen mußte, um irgendwo Halt zu suchen, und als ich losließ, keuchte er und klammerte sich mit seinem freiem Arm an den weichen Boden, grub seine Finger in die Erde, die immer wieder wegbröckelte, so daß er nur lose Klumpen in der Hand hatte. Laß mich nicht los, rief er, das dunkle Haar fiel ihm über die Augen, und ich wollte ihn beruhigen, deswegen sagte ich: Keine Angst, ich lasse dich nicht los. Und ich versuchte, selbst ruhig zu bleiben, obwohl ich noch nie solche Angst gehabt hatte und mein Arm so weh tat, daß es mir vorkam, als würde er aus seiner Verankerung gerissen, während meine andere Hand hinter mir nach einem Halt suchte, einem Baum, einem Ast, einem Felsen, irgend etwas, aber da war nichts. Billy war zu schwer für mich, ich konnte ihn nicht heraufziehen. Ich konnte bloß mit ihm hinunterrutschen. Plötzlich wußte ich, daß wir beide hinunterstürzen und sterben würden. Deswegen faßte ich einen Entschluß. Als er zu mir aufblickte, blanke Panik in den Augen, die Wangen von Tränen und Schmutz verschmiert, öffnete ich meine Hand und ließ ihn los.
Visionen hat man nicht einfach so. Es reicht nicht, daß man sich hinsetzt und sagt: Okay, Gott, jetzt zeig mal, was du kannst. Bevor Sitting Bull seine Soldaten-Heuschrecken-Vision hatte, mußte er die Sonnentanzzeremonie vollziehen. Zugegeben, der Sonnentanz ist ein bißchen extrem, aber ich nehme an, die Sioux lebten in extremen Zeiten. Das ging folgendermaßen: Erst durchbohrte ein Krieger seine Brust und schob sich Holzspieße unter die Haut. Dann nahm er ein langes Seil, band ein Ende an den Spieß und das andere an einen Pfahl. Dann lehnte er sich zurück, bis das Seil gespannt war, und dann noch ein bißchen weiter, bis seine Haut schließlich riß und der Spieß herausfiel. Kein schöner Anblick, aber es funktionierte. Der Schmerz versetzte den Krieger in einen Trancezustand, so daß er mit den Geistern kommunizieren
und eine Vision haben konnte. Um erfolgreich zu sein, brauchten die Sioux Macht, und um Macht zu bekommen, brauchten sie eine Vision, und wenn sie eine Vision wollten, mußten sie vorher leiden – es ist irgendwie logisch, wie das funktioniert, weil einfach eins zum anderen führt. Auch wenn es heutzutage drastisch wirken mag, für Sitting Bull hat es funktioniert: Custer hat es versucht, aber er hat es nie geschafft.
Heute haben sie mich erwischt. Sie haben einen Mann postiert, der die Räder beobachtet hat. Deswegen sitze ich jetzt seit einer geschlagenen Stunde im Büro des Schuldirektors und sehe zu, wie die weißhaarige Sekretärin ganze Papierstapel mit einem riesigen grünen Papierschneider auseinanderschneidet. Die Stahlklinge zischt mit einem scharfen Wuuusch! herunter, während der Direktor, ein birnenförmiger Mann mit fetten Wangen und Glatze, mich mit ernster Miene mustert und von Zeit zu Zeit etwas so Tiefsinniges sagt wie: Du bist in großen Schwierigkeiten, junge Dame. Ich frage mich, was Sitting Bull in dieser Situation wohl tun würde. Aber bevor ich mir einen Plan zurechtlegen kann, kommt mein Vater herein, steht einen Moment lang einfach nur da und starrt mich an. Er wirkt niedergeschlagen und bestürzt und verletzt, alles gleichzeitig, und das läßt mich Sitting Bull und die Sioux vergessen. Statt dessen würde ich am liebsten losheulen, weil er so zerbrechlich aussieht, als wäre seine Welt in eine Million Scherben auseinandergebrochen, und ich denke: Vielleicht ist es Zeit, auszupacken und ihm zu erzählen, warum ich all diese Räder stehlen mußte und wie ich Billy losließ. Aber dann schüttelt er bloß den Kopf und zieht die Schultern hoch, ohne mich auch nur zu fragen, warum ich die Fahrräder genommen habe, und er sagt: Du wirst für jedes dieser Fahrräder bezahlen, selbst wenn es das letzte ist, was du tust, und mit diesen Worten wendet er sich ab und fängt an, mit dem Direktor über eine angemessene
Strafe zu verhandeln. Die beiden einigen sich darauf, daß der Direktor weder die Polizei rufen noch mich der Schule verweisen wird, weil ich schließlich eine Einser-Schülerin bin und mir vorher noch nie etwas habe zuschulden kommen lassen. Und die ganze Zeit über ignoriert mich mein Vater, als wäre ich gar nicht im Raum, und in dem Moment weiß ich, daß es mir nicht gelungen ist, es Sitting Bull gleichzutun. Meine Macht ist nicht groß genug. Ich werde mich noch mehr anstrengen müssen.
Also greife ich in meine
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