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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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Tasche und spiele mit Billys Krankenhausarmreif. Während ich ihn in meiner Handfläche drehe, muß ich daran denken, wie er von seinem Handgelenk gerutscht ist, bevor ich Billy losließ. Da sehe ich den Papierschneider auf dem Schreibtisch und daneben den Stapel Papier. Die Sekretärin ist gerade im Nebenraum und nimmt einen Schluck aus einer blauen Kaffeetasse, und ich denke an die Tapferkeit der Sioux und daran, daß man leiden muß, um Macht zu bekommen. Als niemand herschaut, gehe ich hinüber, lege meinen kleinen Finger unter die hochgeklappte Klinge und greife mit der anderen Hand nach dem Griff, bereit, sie heruntersausen zu lassen. Dabei denke ich die ganze Zeit an die Logik der Sioux, die besagt, daß immer eins zum anderen führt.

16
    Noch immer liege ich reglos unter der Decke auf der Couch, Frannys Geschichte in der Hand. Ich schließe die Augen. Franny war nicht immer pummelig und schüchtern, auch wenn ich sie so im Gedächtnis habe. Ich hatte ganz vergessen, wie sie gewesen war, bevor Billy starb: verspielt, forsch und, wie mein Vater sagte, ein ziemlicher Lausejunge. All das änderte sich, nachdem meine Eltern und Billy tot waren.

    Ich öffne die Augen, als ich M. ins Zimmer kommen höre. Ich habe nicht mehr den Wunsch, ihn wegen meiner unfreiwilligen Mumifizierung anzuschreien. Das Ganze scheint lange zurückzuliegen und kommt mir inzwischen beinahe unwirklich vor. Er läßt sich neben der Couch in einen Sessel fallen und schlägt die Beine übereinander. Eine Weile schweigen wir beide. Jetzt empfinde ich seine Gegenwart, die mir noch vor kurzem so bedrohlich erschien, als tröstlich. Er hat etwas Wohltuendes an sich, der weiche Stoff seiner Jogginghose und sein locker fallender Zopfpulli wirken irgendwie beruhigend auf mich.
    Schließlich sagt er sehr leise: »Erst konnte ich nicht verstehen, wieso Franny trotz allem, was ich ihr antat, bei mir blieb – trotz der Peitschenhiebe, der Schmerzen, der Erniedrigung. Sie blieb bestimmt nicht, weil es ihr Spaß machte. Dann muß es Liebe sein, sagte ich mir; es konnte nur Liebe sein. Ich nehme an, was da sprach, war mein Ego – ich wollte einfach glauben, daß sie alles erdulden würde, selbst Dinge, die ihrem Wesen absolut widersprachen, nur um sich meine Liebe zu sichern.«
    Er hebt die Hand und deutet auf Frannys Geschichte. »Nachdem ich das gelesen hatte, dachte ich anders darüber. Was hältst du davon? Glaubst du, sie sammelte immer noch Punkte, versuchte immer noch, Billys Tod wettzumachen? Es sieht ganz danach aus, obwohl ich bezweifle, daß ihr das bewußt war. Wahrscheinlich glaubte sie, aus Liebe zu handeln. Bald darauf habe ich mich von ihr getrennt. Du siehst also, Nora, sogar ich kann Mitleid empfinden. Ihr Unterhaltungswert sank rapide, als mir bewußt wurde, wie schwerwiegend ihre Probleme waren. Ich fühlte mich ein ganz klein wenig schuldig, weil ich sie nur zu meiner Unterhaltung benutzte.«
    Ich bin viel zu müde, um etwas zu erwidern. Draußen weht ein sanfter Wind. Es muß schon sehr spät sein. »Ist das alles wahr?« frage ich. »Wie sie versucht hat, Billy zu retten? Und
wie sie sich den Finger abgeschnitten hat? Ich weiß noch, daß mein Vater mich damals aus Montana anrief. Er sagte, sie hätte ihn beim Papierschneiden versehentlich abgetrennt.«
    »Das ist die Version, die Franny deinen Eltern erzählt hat. Sie haben nie erfahren, wie das mit dem Finger wirklich passiert ist. Und sie haben auch nie erfahren, wie Billy gestorben ist.«
    Ich starre auf die Decke. »Aber du hast es gewußt«, sage ich. »Du hättest ihr sagen können, daß es nicht ihre Schuld war. Sie war doch noch ein Kind. Sie war nicht stark genug, um ihn zu retten.«
    Mit sanfter Stimme antwortet M.: »Glaubst du denn, ich hätte es nicht versucht? Natürlich habe ich ihr gesagt, daß sie nicht verantwortlich war, aber sie wollte nicht hören. Ihre Schuldgefühle saßen zu tief. Sie fühlte sich sogar für den Tod eurer Eltern verantwortlich.«
    Ich starre ihn verständnislos an.
    »Wenn Billy nicht gestorben wäre, wären sie nie nach Montana gezogen, und hätten sie nicht in Montana gelebt, wären deine Eltern dort nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
    Schweigend sinne ich über die unlogischen Denkprozesse nach, die in Frannys Kopf vorgegangen sind. Ich hätte ihr helfen können, wenn ich die Wahrheit gewußt hätte. Ich hätte es zumindest versuchen können. Statt dessen erzählte sie M., daß ich ihre Schwester war, zog es aber trotzdem

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