Brennende Fesseln
Schliche kommen. Aber bisher gibt es keinerlei konkrete Beweise, die in seine Richtung deuten. Eines muß Ihnen klar sein: Es ist durchaus möglich, daß wir nie herausfinden, wer sie getötet hat – warum oder wie. Vielleicht ist sie einem Landstreicher zum Opfer gefallen, der zufällig in der Stadt war, sie tötete und dann weiterzog. Der Mörder könnte inzwischen in Florida oder Illinois oder irgendwo im Ausland sein.«
Ich wende bei diesen Worten den Kopf ab und starre aus dem Fenster auf den dunkler werdenden Himmel. Ich will davon
nichts wissen, will das Eingeständnis seiner Niederlage nicht hören. Ich denke an M., der heute auf dem Campus einen Klavierabend gibt. Als Joe fertig ist, drehe ich mich wieder zu ihm um und sage: »Es könnte aber auch ein Ortsansässiger sein, der zu schlau ist, um sich fangen zu lassen. Jemand, der auf Schmerzen und Züchtigungen steht und Frauen gern leiden sieht.«
Er nimmt einen Schluck von seinem Bier. Kondenswasser läuft am Glas hinunter, und dort, wo er es abgestellt hatte, ist eine kleine Pfütze auf dem Tisch. Er nimmt einen weiteren langen Zug, leert sein Glas und stellt es wieder ab. Dann sieht er mir direkt in die Augen und fragt geradeheraus: »Was genau machen Sie mit ihm, Nora?«
Jetzt ist es an mir, mit den Achseln zu zucken. »Nichts«, antworte ich leise. Was soll ich ihm von meinen Treffen mit M. erzählen? Wie kann ich ihm etwas erklären, das ich selbst nicht verstehe? Ich kann ihm unmöglich gestehen, daß ich mich M.s Dominanz bereitwillig unterwerfe, wenn auch nur für begrenzte Zeit. Ich bin nicht in der Lage, das laut auszusprechen. Inzwischen kenne ich den Grund für Frannys Verschwiegenheit: Scham. Sie schämte sich, weil sie sich freiwillig von einem Mann erniedrigen ließ. Ich schäme mich,weil ich es genieße. Über so etwas kann man nicht offen mit einem anderen Menschen reden. »Nichts«, wiederhole ich und habe das Gefühl, immer kleiner zu werden.
Joe enthält sich jeden Kommentars. Er starrt auf den Abendhimmel hinaus. Ein Mann in khakifarbener Jacke fährt mit dem Fahrrad vorbei. Sein Vorderlicht wirft einen kleinen weißen Kegel auf die Straße.
Schließlich fragt er: »Was erhoffen Sie sich davon?«
»Sie kennen die Antwort auf diese Frage.«
»Nein, das tue ich nicht«, widerspricht Joe ungeduldig. »Ich weiß nicht, was das Ganze bringen soll – außer, daß Sie in Schwierigkeiten geraten.«
»Wenn er Franny umgebracht hat, werde ich es herausfinden.«
»Glauben Sie, daß Sie das besser können als wir? Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um ihn mit dem Tod Ihrer Schwester in Verbindung zu bringen. Wir konnten ihm nicht das geringste nachweisen.«
»Das heißt nicht, daß er sie nicht getötet hat.«
»Genausowenig heißt es, daß er es war. Vielleicht war ihr Mörder irgendein Psychopath, dem sie zufällig über den Weg gelaufen ist.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Joe lehnt sich zurück, kratzt sich am Hals. Ich wünschte, er wäre so ehrlich und würde mir sagen, was er wirklich glaubt, was sein Instinkt ihm sagt, aber ich weiß, daß er ohne Beweise niemanden beschuldigen wird.
»Es gab keine Hinweise auf einen Kampf«, sage ich. »Nichts unter ihren Fingernägeln, keine Blutergüsse an ihrem Körper. Sie hat sich freiwillig von jemandem fesseln lassen. Es muß jemand gewesen sein, den sie kannte. Und da kommt kein anderer in Frage. Es kann nur er gewesen sein.« Nach einer kurzen Pause füge ich hinzu: »Werden Sie die Ermittlungen gegen ihn wieder aufnehmen?«
Joe zögert, ehe er antwortet. »Wir haben sie nie eingestellt«, sagt er. Nachdenklich fährt er sich mit Mittelfinger und Daumen über den Nasenrücken. Er wirkt frustriert, als hätte ich ihn enttäuscht. »Warum haben Sie mich eigentlich angerufen, Nora? Wollen Sie hören, daß ich es für eine gute Idee halte, wenn Sie in seiner Nähe bleiben? Daß Sie sich weiter mit ihm treffen sollen? Wollen Sie meine Erlaubnis, mit ihm zu schlafen? Ist es das?«
»Nein. Ich wollte Ihnen bloß sagen, was passiert ist. Daß er mir geraten hat, nicht mehr mit Ihnen über die Sache zu reden.« Ich seufze. Wenn ich ihm doch nur alles über mich und
M. erzählen könnte. Als ich heute morgen aufgewacht bin, war ich völlig durcheinander. Ich war noch ganz aufgeregt von dem, was ich geträumt hatte. Als wäre ich die ganze Nacht durch ein Labyrinth geirrt, ein verwirrendes Puzzle aus Gängen, aus denen es kein
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