Brennende Fesseln
Entkommen gab. Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Meine Träume sind nicht allzu subtil. M.s Einfluß auf mich nimmt zu, zieht mich wie ein übermächtiger Magnet in eine Richtung, in die ich gar nicht will. Als ich aufwachte, hatte ich das dringende Bedürfnis nach einem Gegengewicht, und da fiel mir sofort Joe ein. Sein Dienstgradabzeichen kommt mir wie eine entgegengesetzte Kraft vor, die stark genug ist, um es mit M. aufzunehmen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Joe. Ich muß die Wahrheit über Franny herausfinden: Wer sie getötet hat und wie er es getan hat.«
Er streckt seine große Hand aus und legt sie auf meine. »Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, Nora, egal, von welcher Seite man es betrachtet. Tun Sie sich einen Gefallen, und halten Sie sich so weit von ihm fern, wie Sie nur können. Versuchen Sie, Ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.«
Joes besorgter Ton tut mir gut, und die Berührung seiner Hand ist seltsam tröstlich. Plötzlich fühle ich mich sicher und geborgen. Ich wünschte, er würde seine Hand nie wieder wegnehmen, aber noch während ich das wünsche, zieht er sie zurück. Aus irgendeinem Grund muß ich an seine Frau und die drei Kinder denken, vor allem an die Kinder, daran, wie behütet sie sich unter der unerschütterlichen Ägis seiner Liebe fühlen müssen, und daß ich selbst dieses Gefühl nie wieder haben werde. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, und blinzle fest, um sie zurückzudrängen. Ein Hauch von Frannys Bedürfnis nach einer Vaterfigur scheint auch bei mir zum Vorschein zu kommen, und diese neue Erkenntnis läßt mich laut und bitter auflachen. Seltsam, welche Parallelen sich zwischen meinem und ihrem Leben abzeichnen, seit sie tot ist.
Erst seit sie tot ist. M. hatte recht: Franny und ich sind wie zwei Seiten ein und derselben Münze: an der Oberfläche grundverschieden, aber im Kern durchaus vergleichbar. Ein weiteres hartes Lachen kommt über meine Lippen, und Joe runzelt die Stirn, während er mich befremdet anstarrt.
Heute vor einem Jahr ist Franny gestorben.
20
Es ist erst sechs Wochen her, daß ich, als Schulmädchen verkleidet, in M.s Vorlesung war, aber es kommt mir viel länger vor. Als läge ein ganzes Leben dazwischen. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie meine Welt war, bevor M. sie betrat. Ich weiß noch, daß ich von Frannys Tod besessen war, aber das war eine normale Besessenheit, wie sie jede Frau durchmachen könnte, die wüßte, daß der Mörder ihrer Schwester noch am Leben und ungestraft davongekommen ist. Die Welt, in der ich jetzt mit M. lebe, ist nicht so normal, und meine Besessenheit hat beinahe etwas Selbstzerstörerisches. Ich bin mir dessen voll und ganz bewußt. Ich bin mir ebenso bewußt, daß es nicht in meiner Macht steht, dem ein Ende zu setzen.
Wie er es angekündigt hat, züchtigt M. mich nach Belieben. Seine besondere Art der Bestrafung ist in die septischen Laken der Sexualität gehüllt und vermischt Sex mit Schmerz, Sex mit Dominanz, Sex mit Erniedrigung. Und besiegelt wird der Bund mit Lust, endloser Lust: Er achtet sehr darauf, daß meine Orgasmen intensiv sind. Er schiebt meine Toleranzgrenze immer weiter hinaus, und der Schmerz ist enorm, aber genauso enorm ist die Ekstase, die darauf folgt. Ich kenne die Kraft seiner Hand und den Schlag seines Ledergürtels auf meinem Hintern. Ich weiß, daß die Lust, die dann folgt, fast unerträglich süß ist, süßer als alles, was ich je zuvor erlebt
habe. Das ist seine stärkste Waffe: Er befriedigt mich wie kein anderer. Ich habe entdeckt, daß ich einen heftigen verborgenen Hunger nach der dunklen Seite der menschlichen Natur habe. Ich genieße es, an meine Grenzen getrieben zu werden, und ich kann nicht davon lassen. Voller Angst, gleichzeitig aber auch voller Erregung, warte ich auf das, was als nächstes kommt. Ich habe gelernt, M.s Züchtigungen zu akzeptieren. Wie versprochen setzt er sie nur selten ein, dafür aber mit absoluter Autorität. Er läßt mir keine andere Wahl, als mich in seine Bestrafungen zu fügen. Wenn ich Widerstand leiste, ist er, genau wie angekündigt, noch strenger. Er behandelt mich wie ein Kind, bringt mich zum Weinen, läßt mich um Milde betteln, aber trotz meines Flehens läßt er keine Gnade walten. Er wringt den letzten Rest von Trotz aus mir heraus, bis ich mich ihm wimmernd unterwerfe. Er tut, was er will, und er will mich völlig in der Hand haben. Trotzdem weiß ich, daß er sich zurückhält.
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