Brennende Kontinente
er bereits gesagt hatte: Wenn überhaupt, so wäre nach dem Tod seiner Tochter dafür Zeit. Nicht jetzt. Labindarsk erwies sich als größer denn gedacht. Lodrik fand viele kleine Plätze und Hinterhöfe, alle menschenleer und sogar von Tieren verlassen. Keine Katzen oder Hunde, nicht einmal Ratten sprangen umher. Der Frost hatte sie in Scheunen, Häuser und Keller gezwungen. Ebenso verhielt es sich mit den Ärmsten, den Bettlern und Ausgestoßenen. Auch sie waren vor dem Winter geflohen. Lodrik fand kein Opfer, das er einem höheren Ziel zuführen konnte.
»Ich weiß, was du planst«, sagte Soscha neben ihm. »Du wirst das tun, was du bereits den Bettlern in Granburg zugefügt hast.«
Er wandte sich zu ihr ‐ und machte vor Erstaunen einen Schritt rückwärts. Die hellblaue Kugel war verschwunden. Stattdessen stand eine durchsichtige, flirrende Soscha vor ihm, wie er sie das letzte Mal in Ulsar bei ihrem Tod gesehen hatte. Die junge Frau trug sogar die gleichen Kleider wie an diesem Tag an der Kathedrale.
»Ich mache Fortschritte«, sagte sie. »Man kann das Aussehen verändern, wenn man möchte und sich stark darauf konzentriert. Vielleicht gelingt es mir sogar, mich einem gewöhnlichen Menschen zu zeigen und mit ihm zu sprechen.« »Du denkst an Stoiko. Er würde sich freuen ...« »Ich denke an alle, die um mich trauern. Mit dir rede ich, weil ich es muss«, lautete ihre harsche Antwort. »Was ist, Bardric ? Hast du heute noch keinem Unschuldigen den Tod gebracht?«
Lodrik ersparte sich eine Erwiderung und setzte seinen Weg fort. Soscha schwebte neben ihm her. Sie glitt über den Schnee, ohne ihre Füße zu bewegen oder jegliche Art von Spuren zu hinterlassen.
»Wen wird es dieses Mal treffen? Was tust du, wenn es hier keine Bettler hat, Bardric ? Es wird schwer werden, ähnliche Kreaturen zu finden, bei denen du dir einreden kannst, dass der Tod eine Erlösung für sie sei.« Sie schwebte vor ihn. »Ich habe mich in der Stadt umgesehen: Es gibt keine Bettler. Was
wirst du nun tun?«
Er ging einfach durch sie hindurch.
»Nimm doch Kinder. Sie sind aus deiner Sicht sicherlich wertloser als Erwachsene, weil sie über weniger Wissen verfügen. Vielleicht sind ihre Seelen sogar reiner und damit mächtiger?«
Blitzschnell wirbelte Lodrik herum und wollte Soscha berühren, aber sie wich ihm aus. »Möchtest du vernichtet werden, Soscha? Ist es das, was du mit deinem Gekeife erreichen willst?«, knurrte er drohend und hob den rechten Arm. Sein Zeigefinger zielte auf die fahl blau leuchtende Gestalt. Sie lachte. »Nein, Bardric. Ich möchte nicht vergehen. Mein Ziel ist es, dir das Leben unerträglich zu machen. Ich will dich leiden sehen, dein Gemüt zertreten und dich in die eigene Vernichtung treiben.«
Soscha kreiste um ihn herum. »Stoiko hat hehre Absichten, weil er dich retten will und nach einem Ausweg sucht. Aber ich bin nicht damit einverstanden. Du musst vergehen!« Mit diesen Worten schnellte sie davon.
Es war Lodrik nur recht. Vor dem Eingang zur Garnison der Stadtwache blieb er stehen. Die Seelen von Kämpfern eigneten sich gewiss gut, um gegen eine Nekromantin anzutreten; außerdem hatten sie ein Handwerk erwählt, bei dem sie wussten, dass sie ihre Leben verlieren konnten. Er betrachtete die beiden Wärter vor der Hofeinfahrt, die wiederum ein wachsames Auge auf ihn geworfen hatten. Langsam schritt er auf sie zu.
»Guten Abend«, grüßte er sie aus dem Dunkel der Kapuze heraus. Die Männer packten die Stiele ihrer Hellebarden, sie verspürten Angst. »Ich müsste dem Gebäude einen Besuch abstatten.« Es bedurfte geringer Anstrengung, die Männer durch schreckliche Furcht zum Zurückweichen in die Einfahrt zu zwingen.
Kaum befanden sie sich im schwärzesten Schatten, steigerte er ihre Ängste. Trugbilder brachen aus der Dunkelheit hervor und warfen sich kreischend in ihren Verstand, tauchten ein und wühlten darin herum. Sie kehrten alles um, was sie fanden, und formten groteske Vorstellungen von dem, was die Männer kannten.
Keuchend brachen die Wärter zusammen, ließen die Waffen fallen und bedeckten die Augen mit den Händen, als könnte sie dies vor dem Grauen bewahren, das sich auf sie stürzte und sie peinigte. Sie vermochten nicht zu schreien, auch wenn ihre Münder weit offen standen und ihre Halsadern dick hervorgetreten waren. Fische auf dem Trocknen.
Das Grauen peitschte die Körper, um die Seelen aus ihnen zu treiben. Lodrik hätte sie innerhalb eines Lidschlags töten
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