Brennende Kontinente
sammeln. Lorin stand neben dem Kamin. Wieder gab es ein Ereignis, das Tokaro von der wichtigen Reise nach Kalisstron abhielt, aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, seinen Halbbruder in die Heimat zu bringen. Noch nicht endgültig. »Ich glaube nicht, dass es die Nicti waren, die deine Burg überfallen haben«, sagte er zu Tokaro. »Mir sind vor dem Tor keine Spuren aufgefallen, die auf eine große Anzahl von Feinden hinweisen.«
»Ich weiß.« Er deutete auf Fiomas Leiche. »Sie war die einzige Angreiferin. Sie hat es getan.«
»Was?« Estra hob ihr tränennasses Antlitz und schaute ihn erschüttert an. »Wie kannst du das annehmen? Warum und wie sollte sie ein solches Gemetzel anrichten ? Mit ihren bloßen Händen etwa?«
Seine blauen Augen blickten hart. »Ich kenne Erzählungen
meines Ziehvaters Nerestro über die Kensustrianerin, an die
er sein Herz verlor. Ich weiß, wozu sie fähig war.«
Estra wich einen Schritt zurück. »Du sprichst von meiner Mutter!«, rief sie empört.
»Und ich unterscheide zwischen dir und ihr, Estra. Sonst wäre unsere Liebe unmöglich.«
Sie starrte ihn an. »Du bist ein zweiter Nerestro«, flüsterte sie tonlos. »Mit der gleichen Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit und Uneinsichtigkeit.«
»Nun redest du über meinen Ziehvater«, warnte er sie. »Ich lasse nichts auf ihn kommen. Er gab mir ein besseres Leben.« Tokaro streckte die Hand nach ihr aus. »Komm wieder zu mir. Ich...«
»Nein.« Sie wandte sich ab und schaute zur Treppe, die nach oben führte. »Es ist besser, wenn ich heute Nacht allein schlafe. Ich bestatte meine Tante und suche mir ein Zimmer.«
»Bevor wir sie bestatten ...« Tokaro zog die Klinge, packte die Tote bei den Haaren und richtete ihren Oberkörper auf. Die Schneide trennte Hals und Kopf, der Leichnam kippte zur Seite. Der Ritter legte den abgeschnittenen Kopf daneben. »Jetzt bin ich sicher, dass sie nicht wiederkehrt.«
Estra konnte die Augen nicht von der Toten wenden. »Was erlaubst du dir?«, zischte sie voller Wut.
»Ich erlaube mir Sicherheit.« Er packte Fiomas Beine und schleifte sie zum Ausgang. »Sie wird verbrannt und ihre Asche verstreut.«
Mit schnellen Schritten gelangte Estra neben ihn, stieß ihn zurück. »Du wirst nichts dergleichen tun. Sie war meine Tante, also werde ich mich um ihre verstümmelten Überreste kümmern.«
»Eine Tante, die dich getötet hätte, wenn sie dich angetroffen hätte.« Er zeigte auf ihre Brust, wo das Amulett über ihrem Mantel hing. »Ich weiß, worum es bei diesem Spiel geht. Es dreht sich um dieses Schmuckstück, das schon deine Mutter trug. Nerestro berichtete mir davon. Er und Matuc hatten es zerbrochen und auf das Grab gelegt. Danach kehrte Belkala mit schrecklichen Fähigkeiten zurück.« Er schluckte, dann reckte er seine Linke. »Gib es mir, Estra. Ich zerstöre es mit meiner aldoreelischen Klinge.«
Ihre Hand schloss sich darum. »Nein«, entgegnete sie sofort. »Ich brauche es noch.«
»Damit auch dich der Fluch trifft?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich muss zuerst mit König Perdor darüber sprechen.« H Er senkte den Arm. »Du vertraust mir nicht mehr.«
Estra schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gerecht, Tokaro.« Sie deutete auf den Leichnam. »Hilf mir, sie hinauszutragen.«
Er richtete sich auf. »Verzeih, aber meine Toten haben Vorrang. Angor wird um sie trauern und ihre Seelen bei sich aufnehmen.« Er wandte sich um und ließ sie stehen. Lorin löste sich vom Kamin und kam auf Estra zu, packte die Leiche und hob sie an. »Er ist ein Sturkopf.« I »Er ist ein Idiot«, fluchte Estra und berührte ihn am Arm.
»Danke.« Sie hob den abgeschlagenen Kopf auf und ging auf den Ausgang zu, trat mit Lorin in den Hof. Sie stapelten einige Holzstücke aufeinander, betteten Fiomas Überreste darauf und entzündeten den Scheiterhaufen. Vom Leib der Kensustrianerin würde nichts übrig bleiben. Estra betrachtete die Flammen und hing ihren Gedanken nach. Tokaros Worte hatten die Ängste geweckt, die sie schon lange in sich trug. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie das Amulett bekommen und um den Hals gehängt hatte, sie erinnerte sich an den Schwindel, der sie befallen hatte.
Sie erinnerte sich auch an die seltsamen Träume, in denen sie hungrig durch Wälder gestreift war und Wild gejagt hatte. Mit den bloßen Händen. Einmal hatte sie vor den Toren einer fremden Stadt einen Schäfer angefallen und ihn getötet, sein Fleisch und sein Blut...
Estra
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