Brennende Schuld
seinen Schmerz nicht fühlst.
Dann öffneten sich beide Flügel der Kirchentür. Der Gesang wurde noch lauter, und der Sarg, von dem sie wusste, dass er nur mit Steinen gefüllt war, wurde von vier Männern herausgetragen. Onkel Jaume und die Mutter folgten als Erste. Auch sie, dessen war sie sich gewiss, wussten von dem leeren Sarg und dem ganzen Mummenschanz.
Ihr Onkel Lucas nahm sie fest bei der Hand und zog die Widerstrebende mit sich. Als sie den Trauerzug erreicht hatten, reihte er sich ein und schob sie zwischen die Mutter und Onkel Jaume. Dessen Hand fuhr aus der Tasche hoch zu seinem Gesicht. Sie sah, wie er sich mit dem Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. Er schwitzte, obgleich es ein so kühler Tag war. Sie wollte ihn auf ihre Beobachtung aufmerksam machen, beugte sich beim Gehen ein wenig vor und blickte ihn unverwandt an. Er wich ihrem Blick aus. Du trägst Steine spazieren, wir brauchen uns nichts vorzumachen, dachte sie. Du weißt es, Mutter weiß es und ich auch.
Ihre Mutter, die einen Strauß Blumen trug, zog eine rote Rose daraus hervor und gab sie ihr. Dabei beugte sie sich zu ihr herunter und flüsterte: »Ich habe Vater nicht umgebracht.«
Die Mutter richtete sich wieder auf, und alle gingen gleichmäßig und langsam voran und stießen kleine Nebelwölkchen in die kalte Luft.
Sie dachte grimmig daran, dass die Mutter sich verteidigt hatte, ohne dass sie bisher von ihr beschuldigt worden war. Ich habe nicht einmal behauptet, dass er tot ist, dachte sie. Sie sah ihre Mutter an. Ihre Backenknochen schienen mehr hervorzustehen als sonst, und ihr Blick kam aus einer größeren Tiefe. Sie fragte sich, was in ihrer Mutter vorging. Auffällig ist ihr Mund. Das ist kein Beerdigungsmund. Auch sonst ist er groß, wenn sie lacht. Doch wenn sie ernst ist und ungeschminkt, wirkt er wie ein kleiner Schmetterling. Heute nicht. Und ihre Augen sind so schwarz. Zum Tode ihres Mannes zu Tode geschminkt.
Der Junge, der ihr den Krebs zeigen wollte, den er für sie gefangen hatte, war näher gekommen und musste nur noch ein Ehepaar überholen, bis er hinter ihr war.
Er war zwei Jahre jünger als sie, und daher nannte sie ihn in ihren Tagebucheintragungen ›Knirps‹. Sie wusste jetzt, dass der Knirps genau hinter ihr war. Sie hatte es schon erraten, dass er das versuchen würde, als sie mit Onkel Lucas auf den Trauerzug zugegangen war. Ich spüre, dass er was von mir will, aber er soll es für sich behalten, dachte sie, und schon zog er an ihrem rechten Zopf. Sie fuhr herum und fauchte ihn an: »Was willst du?«
Er erschrak und wich zurück, wurde aber von den Nachrückenden weitergeschoben. Sie ließ ihn etwas aufrücken, drehte noch einmal den Kopf und zischte: »Aber natürlich weißt du Knirps nichts zu sagen.«
Er begann zu weinen, und als sie sich wieder umdrehte und es sah, nahm sie blitzschnell seine Hand und flüsterte ihm zu: »Es gibt keinen Grund, zu weinen.«
Die Mutter hatte das gehört und fasste sie hart an der Schulter. Der Weg führte steil nach oben, die Grabkammer war schon geöffnet. In die Öffnung passte der Sarg genau hinein. Ein Geruch stieg ihr in die Nase, sie meinte, es wäre die Blume in ihrer Hand. Sie hob sie ein wenig und verbarg sie dann angeekelt hinter dem Rücken. Wie billiges Parfüm. Ihr wurde übel, sie wollte sich aber nicht erbrechen und atmete tief ein und aus, bis ihr schwindlig wurde.
Die Träger setzten den Sarg vor dem Grabhaus ab, und als er den Boden berührte, traf sie das dumpfe Rumpeln wie ein Stoß in den Magen.
Der Pfarrer begann mit der Einsegnung.
Ihre Mutter weinte, und Onkel Jaume wischte sich den Schweiß ab.
Hätte ich versuchen sollen, den Sarg zu öffnen, damit alle sehen, dass er leer ist? Dazu bin ich nicht stark genug. Sie würden mich festhalten und später sagen, dann warf sich das arme Kind auf den Sarg des Vaters, wenn wir sie nicht zurückgehalten hätten, wer weiß.
Die Verschleierung der Wahrheit von dem Moment an, als sie den Lärm aus ihres Vaters Arbeitszimmer hörte, die Mutter herauskam und sie nicht hineinlassen wollte, bis jetzt hier zur Gruft schien ihr lückenlos. Keine Sekunde hatten sie sie aus den Augen gelassen. Offenbar hatten sie beschlossen, was sie sehen durfte und was nicht. Sie fühlte sich sogar nachts durch das kleine Loch in der Wand beobachtet. Immer wieder hatte sie gefordert, ihrem Vater gegenüberzutreten, tot oder lebendig, aber sie sagten, sie dürfe den Leichnam nicht sehen, weil sie ihn als Lebenden
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