Brennender Stahl: Die Schattensammler-Saga (Die Chroniken von Mondoria) (German Edition)
selig.
Die Müdigkeit verschwand schlagartig aus seinem Geist. Dunkelheit umgab ihn. Kalte, feuchte Dunkelheit. Unsichtbaren Käfern gleich krabbelte sie seine Beine hoch und breitete sich wimmelnd über seinen ganzen Körper aus. Er schauderte. Konzentriert kniff Snip die Augen zusammen und schaute sich um. Aber trotz seiner Fähigkeit, auch im Dunkeln einigermaßen sehen zu können, drangen seine Blicke nicht weit. Ein allgegenwärtiger Nebel blockierte die Sicht. Sicherheitshalber zog er seinen Dolch. In die andere Hand nahm er die kleine Pistole mit dem großen Durchschlag. Ein Fundstück, das ihm und anderen schon mehrmals das Leben gerettet hatte. Mit größter Vorsicht tastete er sich vor. Schritt für Schritt – immer in der Sorge, dass da gleich etwas aus dem Nebel auf ihn zugesprungen kommen könnte.
Wo waren nur die anderen beiden? Für einen kurzen Moment überlegte er, nach ihnen zu rufen. Dann verwarf er den Gedanken sofort wieder. Womöglich lockte er damit erst recht irgendwelche feindlichen Wesen an. Also besser ruhig verhalten. Meter um Meter schlich er voran. Schon bald hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Dieses Reich der Schatten gefiel ihm definitiv nicht.
Als er zum gefühlt eine millionsten Mal durch eine Nebelschwade hindurchschritt, änderte sich schlagartig die Umgebung. Snip stand in einer großen Holzhütte. Auch hier waberte etwas durch die Luft, doch es handelte sich um andere Dämpfe als den Nebel, der ihn gerade noch eingehüllt hatte. Ein süßlicher und zugleich strenger Geruch stieg in seine Nase. Berge von Gerümpel und Unrat türmten sich überall auf. Die wackeligen Regale waren vollgestopft mit allerlei Büchern, Schriftrollen und Utensilien, die man im Laboratorium eines verrückten Magiers erwartet hätte. Klischee pur. Und doch kannte der Goblin diesen Ort nur zu gut. Durch den Eingang der Hütte trat nun eine massige Gestalt. Ein großer Ork, stark und muskulös. Sein nackter Oberkörper zeugte von zahlreichen Kämpfen. Narbe reihte sich an Narbe. Dazu kamen die vielen Tätowierungen. Hauptsächlich Schlangen, aber auch einige Schriftzeichen – magische Runen. Schaute man eine Weile auf darauf, so meinte man, dass sich die Schlangen lebendig wurden und sich bewegten. Um die Schultern hatte er sich das Fell eines weißen Löwen gelegt. Doch das mit Abstand Furchteinflößendste an ihm war sein narbenübersätes Gesicht mit den mächtigen Hauern, die auf beiden Seiten aus dem breiten Mund ragten. Außerdem fehlte ihm das linke Auge. Stattdessen steckte eine blauglänzende Glaskugel in der Höhle. Das verlieh ihm einen irren Blick. Snip fühlte sich gleich an Thorge Asmundsson erinnert. Irgendwie schien das eine kleine Mode geworden zu sein: Blaue Glasaugen für all die Irren dieser Welt.
„Ukdugg!“, flüsterte der Goblin fast lautlos, als der Ork auf ihn zukam. „Du Nichtsnutz!“, fuhr der ihn mit lallender Stimme an, „Du solltest doch den Boden fegen. Schnapp dir sofort den Besen und fang an! Sonst prügel ich dich windelweich.“ Schlagartig fühlte Snip sich in sein früheres Leben zurückversetzt, als er bei dem Orkschamanen lebte – als sein Handlanger. Heimlich hatte er von ihm gelernt, sich einen Gutteil seines Wissens angeeignet und so den Grundstock für das gelegt, was inzwischen aus ihm geworden war. Insofern empfand er durchaus Dankbarkeit und Sympathie für den alten Ork. Zugleich spürte er aber auch Furcht und Unsicherheit; denn dieser Schamane war definitiv verrückt und unberechenbar.
Reflexartig griff er nach dem Besen, der direkt vor ihm an einem Regal lehnte. ‚Stopp!‘, schoss es ihm durch den Kopf, ‚Das kann nicht wirklich sein. Ich bin hier nicht in Ukduggs Hütte. Das ist lange her und weit weg.‘ Schnell schloss er seine Augen und hoffte inständig, dass Ork und Hütte verschwunden wären, wenn er sie wieder öffnete. Aber Fehlanzeige. Wütend schlug Ukdugg mit der Faust auf einen Tisch, dass sie Sachen darauf nur so durch die Gegend flogen. „Willst du wohl sofort anfangen!“, schrie er den Goblin an. Snip spürte, wie er langsam in Panik geriet und mahnte sich selbst zur Ruhe. „Das ist nicht wirklich.“, sagte er leise vor sich hin und schaute dem Orkschamanen direkt ins Gesicht. „Du bist nicht echt. Alles ist nur Einbildung.“ Einem Singsang gleich wiederholte er diese Sätze ein ums andere Mal. Immer lauter sprach er sie aus, bis er schließlich den Ork regelrecht anbrüllte. So etwas hätte er damals nie gewagt.
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