Brennnesselsommer (German Edition)
sich. Fränzi sieht ihre Blicke und zuckt mit den Schultern.
»Das dürfen wir auf keinen Fall Mama und Papa erzählen«, flüstert Anja, »das ist ja eklig.«
Auch Martin mit seinen finsteren Blicken ist ihnen etwas unheimlich. Schließlich suchen alle ihre Kinder, Hunde, Pullover und Schilder zusammen, bald scheint es loszugehen. Die Babys schauen aus bunten Tragetüchern hervor. Ein hässlicher gelblicher Hund schnappt sich die letzten Pfannkuchen vom Küchentisch.
»Und – kommt ihr mit?«, fragt Tim. Anja schaut Flitzi an: »Wir müssen erst fragen, oder?«
»Ich frage«, ruft Flitzi und ist schon aus der Tür. Während alle die Sachen in den Autos verstauen, wartet Anja vor dem Hof auf Flitzi, aber sie kommt einfach nicht zurück. Tim stellt sich zu ihr und klopft an sein Bein. Gleich kommt ein zotteliger Hund angesprungen, der so lange Stirnfransen hat, dass man seine Augen gar nicht sieht.
»Ist das deiner?«, fragt Anja etwas schüchtern, weil sie immer noch an ihre dumme Antwort von vorhin denken muss und am liebsten die Zeit zurückdrehen würde, um etwas Klügeres, Witzigeres zu sagen.
»Der gehört Martin und mir, ist uns zugelaufen«, sagt Tim. »Er heißt Ferkel, weil er als Erstes unseren Mülleimer ausgeräumt und sich im Abfall gewälzt hat.«
»Komischer Name«, meint Anja, und dann traut sie sich noch zu fragen: »Ist Martin dein Papa?«
»So ähnlich«, sagt Tim. Anja fragt nicht weiter nach, denn nun geht es los. Zwei große Busse fahren rückwärts aus der Auffahrt, und jemand hat das Radio so laut gestellt, dass man auf der Straße dazu tanzen könnte. Entweder Flitzi kommt gleich zurück oder Anja muss ohne sie und ohne Erlaubnis mitfahren. Sie steigt schon mal zu Tim und Martin in den Bus, in dem es nach feuchtem Hund riecht, und als Martin anfährt, ist Flitzi immer noch nicht zu sehen. Dann muss sie eben zu Hause bleiben. Die Autos fädeln sich eins nach dem anderen aus der engen Straße auf die Hauptstraße von Lauterbach, manche hupen, und Martin kurbelt die Fensterscheibe herunter und winkt allen Fußgängern. Anja duckt sich unauffällig hinter Tim. Es ist zwar toll, aber auch peinlich, mit so viel Lärm durch den Ort zu kurven, und eigentlich ist es Anja gar nicht recht, so aufzufallen. Aber für den Gnadenhof würde sie alles tun, sogar ohne Erlaubnis mit einer wilden Meute den Sonntagsfrieden stören, der den Lauterbachern sonst sehr heilig ist. Anja weiß das von ihren Eltern.
Sonntag in Lauterbach bedeutet:
– ein weiches Ei zum Frühstück
– viel Kaffee
– immer wieder Kaffee
– lange Zeitung lesen
– nicht bei anderen klingeln
– wenig sprechen
– Sonntagsspaziergang, damit alle auch mal etwas gemeinsam erleben
So sind die Sonntage hier schon immer gewesen, sagen Mama und Papa. Und es gibt keinen Grund, es nicht genauso zu machen, weil man sich irgendwann in der Woche auch mal ausruhen muss. Ausruhen finden Anja und Flitzi langweilig, aber seit Fränzi da ist, können sie ja auf den Gnadenhof, dann müssen ihre Eltern den Sonntagsspaziergang eben mal allein machen. Abends sieht Mama dann manchmal enttäuscht aus, aber sie versucht es zu verbergen, sie will keine Glucke sein, sagt sie. Aber dass Anja statt Sonntagsspaziergang hupend durch Lauterbach rollen darf, ist eher unwahrscheinlich.
Sie fahren langsam durch die Straßen. Fränzi, die im Wagen vor ihnen sitzt, wirft den Leuten Flugblätter zu, bis sie mitten auf dem Dorfplatz zu stehen kommen. Es ist kurz nach zwölf, die Zeit, in der sich sonst eine tiefe Mittagsstille über den Ort legt, und sie brechen in die Stille ein wie die Bremer Stadtmusikanten. Alle springen aus den Autos, die Hunde jagen über den Platz, ein kleines Kind klettert sofort in den Dorfbrunnen, und einer, der Jo heißt, holt sein Saxofon hervor. Er spielt eine schnelle Melodie, die zwischen den Häusern hin und her springt. Die ersten Fenster gehen auf, jemand schreit von oben »Ruhe«, und ein paar Kinder kommen aus den Häusern gelaufen und rennen zu Jo.
»Siehst du, Anja«, ruft Fränzi, »wie gut es ist, ein Instrument zu können?«
Sie läuft zwischen den Hunden, Kindern, ihren Freunden und den bunten Autos hin und her, holt Flugblätter und ein Megafon, und ab und zu schaut sie sich um und nickt ihren Freunden strahlend zu. Man kann sehen, dass sie froh ist, nicht allein zu sein.
Allmählich füllt sich der Platz immer mehr. Benito und Keno, die bisher ausgelassen herumgetobt
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