Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
sie mithelfen, den Widerstandsgeist der unbotmäßigen Sunniten zu brechen. Die Franzosen förderten daher die Alawiten, wo es nur ging, um sich ihrer Loyalität zu versichern. Der Hass der religiösen Mehrheit war dieser religiösen Minderheit demnach sicher. So war es dann auch kein Wunder, dass sich die Alawiten in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Händen und Füßen gegen eine geplante Fusion mit dem von Sunniten dominierten Mandatsgebiet wehrten. Der Großvater des gegenwärtigen Präsidenten, Suleiman al-Assad, schrieb 1936 zusammen mit anderen führenden Alawiten in einem Brandbrief an den französischen Präsidenten Leon Blum:
»Der Geist von Hass und Fanatismus im Herzen der arabischen Muslime lässt sie jeden Nichtmuslim ablehnen. Da diese Haltung vom Islam ständig genährt wird, gibt es keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert.«
Die Unterzeichner fürchteten in einem Großsyrien als Minderheit von der sunnitischen Mehrheit wieder einmal verfolgt zu werden, sobald ihre Schutzmacht Frankreich aus Syrien abziehen sollte. In der Vergangenheit hatten sie immer wieder solche Repressionen ertragen müssen. Die Sunniten, von denen der Widerstand gegen die Franzosen ausging, sahen in ihnen ja nicht nur Ungläubige, sondern auch wegen ihrer engen Kontakte zu den Franzosen Verräter. Tatsächlich kam es nach dem Ende des kolonialen Völkerbundmandats 1944 immer wieder zu Rachefeldzügen sunnitischer Extremisten gegen alawitische Dörfer. Erst seit sich der Alawit Hafiz al-Assad 1970 an die Macht im Staat geputscht hatte, fühlen sich seine Glaubensbrüder in Syrien sicher.
Verraten und verkauft
Mit noch einer anderen weitreichenden Entscheidung hatten die Franzosen gegen Ende ihrer Mandatszeit den Zorn der sunnitischen Araber auf sich gezogen und den Keim für zukünftige Konflikte gelegt.
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs sorgten sich die Franzosen, die Türkei könne auf der Seite der deutschen Nazis in den drohenden Krieg eingreifen. Die im Mandatsgebiet Syrien stationierten französischen Streitkräfte wären aber zu schwach gewesen, einen solchen türkischen Angriff abzuwehren. Daher ließen sich die Franzosen auf einen Tauschhandel ein: Gebietsabtretung gegen Sicherheit. Die Türkei beanspruchte nämlich ein Gebiet westlich von Aleppo nahe der syrisch-türkischen Grenze, in dem zwar mehrheitlich Araber lebten, aber auch eine stattliche türkische Minderheit. In der osmanischen Zeit war das Zusammenleben selten ein Problem gewesen. Doch während der französischen Mandatszeit nach dem Ersten Weltkrieg war es in diesem Alexandrette genannten Bezirk immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der arabischen Mehrheit und der türkischen Minderheit gekommen, möglicherweise geschürt aus der Türkei. Obwohl tausende Syrer in Städten wie Damaskus oder Aleppo gegen die Abtretungspläne protestierten, verzichtete 1939 die Kolonialmacht Frankreich endgültig auf dieses Gebiet und überließ es der Türkei. Der türkische Präsident Mustafa Kemal Atatürk nahm das Geschenk dankend an und ließ seine Armee einmarschieren, begeistert begrüßt von den Minderheitstürken. Die arabische Mehrheit reagierte geschockt auf diesen Gebiets- und Menschenhandel. Sie fühlte sich verraten und verkauft, gefragt hatte sie niemand vor dem Tauschgeschäft. Tausende Araber flohen vor der türkischen Armee in das französische Mandatsgebiet.
Anerkannt hat Syrien diese Gebietsabtretung bis heute nicht. Das hatte in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Spannungen zwischen der Türkei und Syrien geführt, zumal dort nach wie vor eine große alawitisch-arabische Minderheit lebt. Vielleicht auch deshalb hatten die Attentäter vom 11. Mai 2013 die in dieser umstrittenen südtürkischen Provinz gelegene Stadt Reyhanli als Anschlagsziel ausgesucht. 51 Menschen kamen durch die Autobomben damals ums Leben, 140 wurden verletzt. Verdächtigt wird unter anderem die Nusra-Front, also sunnitische Extremisten, die Alawiten unversöhnlich bekämpfen.
Auch bei den Spannungen in diesem Grenzgebiet – einer der Konflikte im Nahen Osten – gehen die Ursprünge bis in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Herren Sykes und Picot also eine Art Brandstifter mit Langzeitwirkung: Ihr Abkommen von 1916 war ein Brandbeschleuniger mit Mehrfachzünder.
Hundert Jahre später – Syrien
Der Abzug der Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg brachte den Menschen nicht die erhoffte Befreiung von
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