Bretonische Brandung
heute Abend. Das Wolkenband war jetzt bedrohlich nahe gekommen, es hatte sich zu einer gigantischen Wolkenfront aufgetürmt, ein Ungetüm, vermutlich nicht einmal mehr als zehn Kilometer entfernt. Pechschwarz. Erst jetzt bemerkte Dupin, dass der Wind nicht nur aufgefrischt hatte, sondern inzwischen immer wieder heftige Böen über die Inseln fegten. Aber er wusste: Selbst das hieß in der Bretagne noch nichts, das hatte er alles schon erlebt, er war kein Anfänger mehr. Dupin blickte auf das Meer. Es waren bereits weiße Schaumkronen zu sehen. Und veritable Wellen. Das war schnell gegangen. Auf dem Weg von Brilimec zurück nach Saint-Nicolas war ihm noch nichts aufgefallen. Aber da waren sie bis auf das erste kleine Stück nur durch die Kammer gefahren, und er hatte ununterbrochen auf sein Handy gestarrt.
Er atmete ein paarmal tief durch.
»Sie sagten, Kilian Tanguy hält sich immer noch hier im Quatre Vents auf?«
»Ja. Vorn auf der Terrasse.«
»Ich werde ein paar Worte mit ihm wechseln.«
»Wie gesagt: Er hat Gäste. Unterwasserarchäologen.«
»Umso besser.«
Dupin hätte Kilian Tanguy beinahe nicht erkannt, in Jeans und buntem Sweatshirt statt im Neoprenanzug, mit trockenem Gesicht und trockenem Kopf. Es war am ehesten die Form des Kopfes, an der er ihn wiedererkannte: wie ein Ei. Er hatte eine Glatze bis auf einen schmalen, kurz geschnittenen Haaransatz über den Ohren, der noch unangegriffen schwarz war; eine fleischige Nase, lebenslustige Augen. Er saß mit sechs Männern zusammen, alle ungefähr in seinem Alter.
»Bonjour Messieurs, Commissaire Georges Dupin vom Commissariat de Police Concarneau. Ich würde gern Monsieur Tanguy sprechen, aber da ich gehört habe, dass Sie alle Unterwasserarchäologen sind, würde ich einige Fragen an Sie alle richten.«
Dupin sprach tief und resolut, was seine Wirkung selten verfehlte.
»Sie sind der Polizist aus Paris, nicht wahr?«
Ein stattlich gebauter Mann mit einem kindlichen Gesicht schaute ihn neugierig an. Mit ihm die ganze Runde.
Dupin war es leid, diese Frage zu beantworten.
»Wussten Sie, dass Paris nach der legendären versunkenen Stadt Ys benannt wurde?«, fuhr der Mann auch schon eifrig fort. »Par-Ys! Nach dem bretonischen Atlantis, das unendlich prächtig und reich war und den Ozean in aufwendigen Zeremonien als einzige Gottheit verehrte. Das Königreich von Gradlon, seiner Tochter Dahut, der Verlobten des Meeres, und seinem Zauberpferd Morvark ist bis heute das Symbol für die freie Bretagne. Ys lag vor Douarnenez! Es gibt eine Reihe von ersten ernst zu nehmenden archäologischen Hinweisen.«
Dupin hatte davon noch nie gehört, genauso wenig davon, dass auch Paris am Ende nur bretonisch sein sollte. Kilian Tanguy schaltete sich glücklicherweise in diesem Moment ein.
»Ich denke, damit sind wir alle einverstanden, Monsieur le Commissaire. Sie haben hier in der Tat eine Reihe illustrer Unterwasserarchäologen der Universität von Brest vor sich, die unserer kleinen Gruppe im Klub freundschaftlich assoziiert ist. Wie können wir der Polizei helfen?«
In seiner Stimme lag etwas Schelmisches. Etwas sympathisch Schelmisches.
»Wissen Sie etwas über Schatzsuchen, die hier an der Küste zurzeit im Gange sind? Haben Sie etwas munkeln gehört?«
Die Taucher schauten sich gegenseitig an, unaufgeregt. Wieder antwortete Kilian Tanguy.
»Sie vermuten, hinter den drei Morden steckt die Geschichte einer Schatzsuche?«
Er klang dabei eindeutig stolz.
»Wir ermitteln in verschiedene Richtungen. Und das ist eine davon. Mehr nicht.«
»Ich habe nichts von einem spektakulären Fund gehört. Nicht mal gerüchteweise.«
Tanguy fügte deutlich ernster hinzu:
»Aber Sie müssen wissen, Monsieur le Commissaire, dass wir, wie wir sagen, nach Holz tauchen, nicht nach Edelmetallen! Die Unterwasserarchäologie hat ganz andere Ziele. Wissenschaftliche Ziele. Wir suchen zum Beispiel nach Siedlungsplätzen der mesolithischen Epoche. Bereits viertausend vor Christus wurde hier auf Brunec ein Dolmen errichtet, auch auf Saint-Nicolas und Bananec hat man Gräber angelegt. Wir wissen fast nichts über diese Kultur. So vieles liegt nun seit Langem unter der Wasserlinie.«
Seine Gesichtszüge zeigten mittlerweile fast eine Art Empörung.
»Hundert Meter ist das Meer in den letzten zehntausend Jahren gestiegen! Hundert Meter! Vor ein paar Tausend Jahren kamen die Briten noch, Gott behüte, trockenen Fußes nach Frankreich! – Und wenn wir uns für versunkene Schiffe
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