Bretonische Brandung
vorbei. Je nachdem, wann ich mit dem Fall durch bin. Und eigentlich kommt meine Mutter ja übermorgen für ein paar Tage.«
»Ach ja. Hatte ich vergessen. Passt doch wunderbar. Dann kommt ihr zusammen.«
»Wahrscheinlich muss ich ihr absagen.«
Henri lachte, sein tiefes, eher leises Lachen, das sein ganzes Gesicht einnahm.
»Du wirst den Fall schnell lösen. Schon allein für deine Mutter.«
Dupin nahm seine Autoschlüssel vom Tresen.
»Salut!«
»Und ruf Claire an.«
Jetzt musste Dupin lachen. Sie hatten darüber gesprochen. Nie lange. Aber ein paarmal.
»Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen.«
»Romantisch!«
»Bis nächste Woche.«
»Ja, bis nächste Woche!«
Sie befanden sich inmitten des tiefen atlantischen Blaus, vor ihnen schimmerten die Glénan, hinter ihnen die Île aux Moutons. Obwohl es bis dort nicht weit war, waren die Moutons nur undeutlich zu sehen. Diffus verschwammen sie mit dem Meer. Es war diesig, auf eine bestimmte Weise. Dupin kannte das mittlerweile: Die Wirkung des Wassers in der Luft war enorm. Das Blau wurde sanft, weich, geschmeidig, es war immer noch ein volles Blau, hatte aber nicht die luzide Leuchtkraft von gestern. Der Dunst veränderte Licht, Sonne, Farben, Geschmack und Geruch der Luft, sie wurde selbst ganz weich – und zugleich kräftiger, intensiver. Er dämpfte die Geräusche, sogar die Stille. Auch sie wurde samtig. Am Horizont im Westen war – weit entfernt – eine dünne, scharf umrandete Schicht dunkler Wolkenmasse zu erkennen, ein feiner, fester Strich, so lang allerdings, dass kein Ende zu sehen war.
Der Kapitän der Luc’hed hatte den Motor abgestellt. Die Besatzung war mit dem Beiboot beschäftigt. Das Meer schien in geradezu vollkommener Weise glatt – »wie Öl«, sagten die Bretonen –, nicht mal die leichteste Bewegung war zu sehen, und dennoch schaukelte das Boot wie durch Geisterhand in heftiger, wenn auch seltsam verlangsamter Weise.
Sie lagen ungefähr dreißig Meter vom Boot Marc Leussots entfernt, der Kavadenn, die zwar einen gewöhnlichen Rumpf hatte, deren zum Teil unförmige Aufbauten und Installationen aber erkennen ließen, dass das Boot einem besonderen Zweck diente. Es dauerte einen Moment, dann erkannte Dupin es als das Boot wieder, das ihm gestern, als er im Quatre Vents gesessen und den köstlichen Hummer gegessen hatte, am Quai aufgefallen war.
Docteur Le Menn war nicht zu erreichen gewesen, nicht in der Praxis, nicht zu Hause, nicht auf seinem Handy. Er hatte erst am Nachmittag Sprechstunde, den Dienstagmorgen verbrachte er mit Hausbesuchen, wenn welche anlagen – was heute, so die Sprechstundenhilfe, nicht der Fall gewesen war. Dupin war zurück nach Concarneau gefahren, wo die Luc’hed auf ihn gewartet hatte, Nolwenn hatte alles organisiert. Er hatte noch einmal mit Kadeg telefoniert, der die erste Begegnung mit dem Direktor des Instituts bereits hinter sich hatte, aber einigermaßen unbeeindruckt schien und berichtete, dass zwei Experten aus Quimper bereits die Server des Instituts gesperrt hätten. Der Direktor beriet sich derzeit mit seinen Anwälten.
Nolwenn hatte Leussot dann doch anfunken lassen, um dessen genaue Position zu erfahren. So war es, wie gestern, wieder ein Schnellboot geworden, das seinem Namen alle Ehre gemacht hatte und mit Dupin durch die Dünung geprescht war.
»Kommen Sie, Monsieur le Commissaire.«
Einer der Polizisten befand sich bereits in dem sehr kleinen Beiboot, das stark schaukelte. Das war wirklich nicht Dupins Terrain, nein, und er war äußerst unglücklich, seinen gestern früh ganz zu Recht gefassten Entschluss, das mit den Booten einfach sein zu lassen, nun doch so schnell über Bord geworfen zu haben. Er hätte Leussot einfach nach Saint-Nicolas bestellen sollen. Dupin gab sich einen Ruck. Unter Aufbietung aller psychischen Kräfte und dank seiner Behändigkeit, die ihm aufgrund seiner etwas massiveren Statur meist nicht zugetraut wurde, war er wenig später auf dem winzigen Kahn. Der Außenbordmotor zeigte eindrucksvoll seine PS, und mit beeindruckender Geschwindigkeit näherten sie sich der Kavadenn. Leussot stand am Heck seines Bootes, wo breite Holzstufen ins Meer führten.
»Bonjour, Monsieur le Commissaire. Kommen Sie.«
Leussot streckte dem Kommissar die Hand entgegen, doch Dupin hievte sich eigenständig in einer nicht eleganten, aber doch zielgenauen Bewegung an Bord.
»Bonjour, Monsieur Leussot.«
Leussot war ein hochgewachsener, sehr athletischer Mann mit feinen
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