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Bretonische Verhältnisse

Bretonische Verhältnisse

Titel: Bretonische Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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Bildrand nach rechts gehend ein wenig Geäst andeutete. Das Hervorstechendste dieser Skizze aber war eine Farbe: ein grelles Orange, das den ganzen Hintergrund ausmachte, als wäre es die Grundfarbe dieses Stück Papiers.
    »Er hat es ausprobiert. Gauguin hat das Orange hier ausprobiert. Das ist unglaublich.«
    Dupin war nicht klar, was Madame Cassel damit sagen wollte.
    »Damit ist ein solches Bild wie es hier im Restaurant hängt – ich meine, ein mögliches Original dieses Bildes ein Stück, wie soll ich sagen, vorstellbarer geworden.«
    »Ein Stück vorstellbarer?«
    Plötzlich klopfte es sehr heftig. Dupin hatte Lust, betont übellaunig zu reagieren und »Jetzt nicht« zu rufen, aber Kadeg stand schon im Raum. Er war vollkommen außer Atem und leichenblass. Seine Stimme schepperte eigenartig.
    »Es gibt«, er rang nach Luft, »es gibt einen weiteren Toten.«
    Dupin und Madame Cassel wussten beide einen Augenblick lang nicht, ob sie lachen sollten. Kadegs Auftritt wirkte wie eine schlechte Szene in einem schlechten Theaterstück.
    »Sie sollten sofort kommen, Monsieur le Commissaire.«
    Dupin schnellte auf ähnlich theatralisch absurde Weise hoch wie Kadeg hereingeplatzt war, und wusste immer noch nicht, was er sagen sollte. Er murmelte: »Gut, ja. Ich komme.«
    Die Leiche sah schlimm aus. Arme und Beine standen auf eine ganz unnatürliche Art vom Körper ab; die Knochen mussten mehrfach gebrochen sein. Hose und Pullover waren an manchen Stellen zerrissen, zerfetzt, wie die Haut und das Fleisch an den Knien, Schultern und an der Brust. Die linke Seite des Kopfes war zertrümmert. Die sturmumtosten Klippen waren tückisch an diesem Teil der Küste. Hoch aufragend, dreißig, vierzig Meter über dem Meer, steil abfallend, so wild geschachtelt, so dramatisch zerfurcht, so scharfkantig und dabei porös, dass schon ein Sturz aus einer geringen Höhe verheerend war. Loic Pennec musste auf den schmalen Vorsprüngen einige Male aufgeschlagen sein, bevor er endgültig hier unten auf den mächtigen Klippen direkt an der Brandung auftraf. Niemand würde je wissen, ob er den Sturz zunächst noch überlebt und lange Stunden auf Hilfe gehofft hatte. Der heftige Regen und Sturm hatten das Blut und alles andere weggeschwemmt, der Sand zwischen den großen Steinen war rot eingefärbt.
    Der Wind kam in brutalen, kurz aufeinanderfolgenden Stößen, er peitschte den Regen vor sich her. Es war halb neun, aber hell war es bisher nicht geworden. Der Himmel war von dramatischer Schwärze, massige Wolkenungetüme rasten dicht über die See. Pennec lag vielleicht zweihundert Meter vom Plage Tahiti entfernt, Dupins Lieblingsstrand, vor dem sich wie gemalt zwei kleine, direkt der Küste vorgelagerte Inselchen erstreckten. Mit dem Wagen waren es von hier aus vielleicht zehn Minuten bis Pont Aven. Gestern noch hatten hier Urlauber einen perfekten Sommertag erlebt, Kinder bei unfassbar glattem Meer in blau-türkisfarbenem Wasser gespielt, auf feinem, blendend weißen Sand – das Ganze bei prächtigem Wetter von einer Bucht in der Südsee nur schwer zu unterscheiden. Heute war es wie das Ende aller Tage.
    Von der östlichen Strandseite führte ein schmaler Weg die Klippen hoch und dann oben in abenteuerlichen Windungen die Küste entlang (ein alter Schmugglerweg, wie die Einwohner stolz berichteten), bis nach Rospico und weiter nach Port Manech. Das Gelände war wenig besiedelt, ein Naturschutzgebiet. Ein atemberaubend schöner Weg. Dupin kam manchmal zum Spazieren hierher.
    Reglas war direkt mit Dupin gefahren, sie hatten Dupins Auto genommen. Riwal und Kadeg waren mit einem zweiten Wagen gefolgt und fast gleichzeitig eingetroffen.
    Eine Joggerin hatte Pennec gefunden und die Polizei benachrichtigt, die beiden Kollegen aus Pont Aven waren sofort aufgebrochen und als Erste da gewesen, jetzt sicherten sie oben den Weg, den man von hier unten schon fast nicht mehr erkennen konnte, so tief hingen die Wolken. Bonnec hatte am Parkplatz auf Dupin gewartet und sie zu Loic Pennecs Leiche geführt.
    Sie standen zu viert um die Leiche herum, Riwal, Kadeg, Reglas und Dupin, schon jetzt waren sie vollkommen durchnässt, der Weg vom Parkplatz bis hierhin hatte genügt. Es war ein grausames Bild. Reglas war der Erste, der etwas sagte.
    »Wir sollten sofort die Spuren auf dem Weg sichern. Wir werden umgehend untersuchen, ob wir Hinweise auf eine zweite Person finden.«
    »Ja, das sollten wir so schnell wie möglich wissen.« Dupin musste Reglas recht geben.

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