Bretonische Verhältnisse
Davon hing alles ab.
»Wir müssen uns beeilen. Die Spuren werden bereits jetzt weitgehend weggeschwemmt worden sein, wenn sie sich nicht tief in den Boden geprägt haben. Ich lasse mein Team kommen.«
Reglas wandte sich um und begann geschickt, aber auch mit erkennbar großem Respekt über die Felsen nach oben zu klettern. Regen und Gischt hatten alles fürchterlich glitschig werden lassen. Riwal, Kadeg und Dupin blieben bei der Leiche, wieder sagte keiner ein Wort, wieder standen sie nur und schauten, als würden sie eine seltsame Andacht halten.
Kadeg löste sich als Erster. Er gab sich Mühe, geschäftsmäßig zu klingen.
»Sie sollten Madame Pennec vom Tod ihres Mannes unterrichten, Monsieur le Commissaire. Das ist sicher das Wichtigste.«
Er schaute unbestimmt nach oben, zu der Stelle, wo Reglas verschwunden war.
»Wir sollten hier alles großflächig absperren lassen.«
»So ein Scheiß.«
Dupin hatte zu sich selbst gesprochen, aber sehr laut. Er fuhr sich heftig durch die nassen Haare, die unangenehm am Kopf klebten. Er musste allein sein. Nachdenken. Die Dinge nahmen eine extreme Wendung. Nicht, dass es zuvor ein harmloser Fall gewesen wäre, aber nun war aus einer Provinzgeschichte – in der es zunächst um Erbschaften oder vielleicht tiefe Kränkungen zu gehen schien – ein gewaltiger Fall geworden. Ein Fall völlig anderer Dimension. Schon durch die fantastische Summe, die vierzig Millionen, um die es vielleicht ging. Und durch diesen zweiten Toten. Hatte Dupin in den letzten beiden Tagen das Gefühl gehabt, dass alles auf eine diffuse Weise seltsam irreal gewesen war – dieser merkwürdige Mord in dieser perfekten Sommeridylle –, hatte mit diesem zweiten Toten alles auf brutalste Weise eine jähe, unentrinnbare Realität gewonnen.
»Ich werde einige Anrufe machen. Bleiben Sie hier am Tatort. Sie beide. Und melden Sie sich, wenn es Neues gibt. Sofort.«
Nicht einmal Kadeg protestierte. Dupin hatte keine Idee, wohin er wollte, vor allem nicht in diesem Regen. Er kletterte ein Stück weit über die Felsen am Meer entlang, was ein wenig albern aussah. Es war nicht leicht, auf den rutschigen Felsen und Steinen das Gleichgewicht zu halten. Aber er hatte keine Lust, den direkten Weg nach oben zu nehmen und noch einmal den Kollegen zu begegnen. Erst beim nächsten größeren Felsvorsprung kletterte er hoch, auf den Küstenweg, lief dann ein Stück und bog, als der Weg sich gabelte und rechter Hand zum Parkplatz führte, nach links ab, zum menschenleeren Strand hinunter.
Das andere Ende des Strands und auch die Inselchen, die so pittoresk vor der Küste lagen, waren selbst mit Anstrengung nur schemenhaft zu sehen. Seine Jacke, sein Poloshirt, seine Jeans, alles war triefnass, das Wasser rann ihm in die Schuhe. Es war der Regen, den der vom Meer her tobende Sturm seitwärts trieb, aber auch die gewaltige Gischt, die sich mit dem Regen ununterscheidbar vermengte. Mächtige Wellen, drei, vier Meter hoch, rollten unaufhaltsam auf den Strand und brachen mit ohrenbetäubendem Lärm an der Sandkante. Die Wellen berührten Dupins Schuhe, so nahe war er ans Wasser herangegangen. Er atmete tief ein und begann langsam den Strand entlangzulaufen.
War es ein Mord, ein Selbstmord? Loic Pennec war tot. Vor zwei Tagen hatte jemand seinen Vater ermordet. Jetzt den Sohn? Dupin musste seine Gedanken ordnen. Er musste sich jetzt konzentrieren. Vollkommen konzentrieren. Schritt für Schritt vor gehen, sich nicht konfus machen lassen. Nicht von dem zweiten Toten. Nicht von der Aufregung, die nun losbrechen würde. Egal ob Unfall, Mord oder Selbstmord, es würde einen riesigen Skandal geben, er mochte sich nicht vorstellen, was los sein würde, wenn sich die Nachricht verbreitete. Er musste den Grund kennen. Was hatte alles in Gang gesetzt? Er musste schnell sein. Hatte im Restaurant tatsächlich ein echter Gauguin gehangen? Das war die erste Frage. Er musste es wissen . Sicher wissen. Aber wie würde er das herausfinden? Und gäbe es einen echten unbekannten Gauguin, dann war die Frage: Wer hätte von dem Bild gewusst? Den vierzig Millionen Euro. Diese Frage entschied über alles. Wem hätte Pennec davon erzählt? Und wann? In den letzten Tagen, als er wusste, dass er sterben würde? Oder schon vor Jahren? Vor Jahrzehnten? Hätte er überhaupt jemandem davon erzählt? Sein Sohn hätte es doch wissen müssen. Dann auch Catherine Pennec. Oder hätte auch der Sohn nichts gewusst? Es war offensichtlich, dass der alte
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