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Brezeltango

Brezeltango

Titel: Brezeltango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Kabatek
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Waldfrieds Jackett.
    »Nicht so wild schütteln!«, sagte ich beschwörend. »Das ist bestimmt total ungesund.«
    »Kannst es gern haben, wenn du’s besser weißt«, zischte er und schubste mir das Baby auf den Arm.
    Aha, wir waren also zum Katastrophen-Du übergegangen. Ich kannte das schon. In Extremsituationen war selbst im förmlichen Deutschland »Sie« einfach nicht angebracht.
    »Was soll ich denn jetzt machen?«, sagte ich und blickte verzweifelt auf das brüllende Bündel mit dem knallroten Gesichtchen auf meinem Arm. Es war ganz schön schwer.
    »Keine Ahnung. Du bist doch die Mutter!«
    »Wahrscheinlich hat es Hunger. Also Stillen übersteigt definitiv meine Fähigkeiten. Vielleicht gibt’s irgendwo ein Fläschchen?«
    »Das Kind ist doch schon viel zu groß zum Stillen!«
    »Ach, dann will es vielleicht laufen?«, sagte ich hoffnungsvoll.
    Waldfried stöhnte. »Dafür ist es doch noch viel zu klein!«
    »Zu groß, zu klein – du scheinst dich ja prächtig mit Kindern auszukennen«, sagte ich spitz. »Warum kriegst du es dann nicht ruhiggestellt?«
    »Wir müssen jetzt erst mal abhauen«, flüsterte Waldfried. »Demnächst ruft jemand die Polizei.«
    »Wir sollten sowieso ganz schnell die Polizei benachrichtigen. Wir können doch nichts dafür, es ist ja alles nur ein Missverständnis! Und die Mutter steht sicher Todesängste aus!« Ich versuchte, mit einer Hand in meiner Umhängetasche zu wühlen. Das Baby rutschte gefährlich tiefer. Dann fiel mir ein, dass das Handy in Leons Wohnung lag.
    »Polizei? In meiner Position? Das kann ich mir nicht leisten.«
    »Seit wann fahren Menschen, die eine Position haben, in Stuttgart Stadtbahn wie die Normalsterblichen?«
    Er sah sich mit gehetztem Blick um und flüsterte: »Ich kandidiere für die Bundestagswahl und bin auf dem Weg zu einem Wahlkampftermin. Öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrrad, so wie der Boris Palmer, das kommt gut an beim Wähler. Aber einen Skandal kann ich mir absolut nicht erlauben!«
    Mir kam sein Gesicht überhaupt nicht bekannt vor. Andererseits sahen die Kandidaten auf den Plakaten alle aus wie doofgeklont – Jackett, Krawatte, wenig Haare, dümmlichvolksnahes Grinsen.
    Plötzlich war in der Ferne ein munteres Tatütata zu hören. Der echten Mutter musste ja auch allmählich aufgefallen sein, dass der Kinderwagen fehlte! Lange konnten wir nicht mehr fackeln. Meine Hände waren feucht vor Nervosität. Hoffentlich glitschte mir das Baby nicht aus den Fingern.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich panisch.
    »Wir deponieren den Kinderwagen vor dem nächsten Polizeirevier. Ich kenn’ mich hier aus, das ist in der Wiesbadener Straße, gleich um die Ecke. Dann rufen wir anonym von einer Telefonzelle aus an und erklären, was passiert ist. Zur Entschuldigung schicken wir dem Kind ein Sigikid-Schnuffeltuch und die Sache ist aus der Welt.«
    Geniale Idee, schließlich gab es auch überhaupt keine Zeugen. Und standen Telefonzellen nicht mittlerweile auf der Liste der bedrohten Arten? Andererseits war ich im Moment komplett ohne Position und konnte es mir nicht erlauben, ein Gerichtsverfahren an den Hals zu kriegen, auch wenn man uns am Ende ganz sicher wegen Mangel an Beweisen freisprechen würde.
    Wir bogen nach rechts in eine breite Straße mit frei stehenden Häusern ein, ich mit dem Kind, das erstaunlicherweise aufgehört hatte zu brüllen, was mir einen Blick mit dem Titel »Auch-wenn-sie-es-abstreiten-Frauen-sind-von-Naturaus-hormonell-für-die-Kinderbetreuung-vorgesehen« eintrug, und er mit dem Kinderwagen. Ich versuchte, mich ganz natürlich zu verhalten, wie eine glückliche junge Mutter eben, lächelte freundlich nach allen Seiten und es fiel bestimmt kaum auf, dass er mit dem aerodynamischen Wagen überall dagegenbumperte und ich das Baby ziemlich wackelig auf den Armen balancierte.
    »Wie heißt du überhaupt?«, fragte er unvermittelt. Nanu, das wurde ja auf einmal richtig persönlich.
    »Ich heiße Line.«
    »Caroline also?«
    »Nein. Pipeline.«
    Ich erntete einen dieser fassungslosen Blicke, an die ich seit 32 Jahren gewöhnt bin.
    »Mein Vater war Ingenieur und hat in Russland eine Pipeline gebaut«, erklärte ich. »Dort hat er meine Mutter kennengelernt. Das Ergebnis war ich.«
    Und das Katastrophen-Gen schlug zum ersten Mal zu und die Baustelle versank im Chaos, aber das sagte ich natürlich nicht laut.
    »Interessant. Was hat deine Mutter dort gemacht?«
    »Sie war als russische Dolmetscherin getarnt. Aber eigentlich

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