Brian Lumleys Necroscope Buch 3: Blutmesse (German Edition)
perlmuttfarbene Kugel in einem Wirbel fast unsichtbarer kleinster Härchen. Agursky starrte das Schauspiel an und schüttelte verständnislos den Kopf.
In einem Moment des Leichtsinns und der Faszination, und weil er schlicht vergessen hatte, womit er es hier zu tun hatte, streckte er den Arm in den Behälter und tippte die kleine Kugel sanft mit dem Zeigefinger der rechten Hand an. Im Augenblick der Berührung bemerkte er den Aberwitz dieser Handlung, aber da war es schon zu spät.
Das kugelförmige Wesen lief augenblicklich blutrot an und sauste an seiner Hand hoch unter die Manschette seines Laborkittels. Agursky stieß einen gurgelnden Schrei aus, fuhr hoch und sprang von dem Wagen weg. Er konnte fühlen, wie das kugelförmige Etwas feucht seinen Unterarm hochglitt und sich schnell über den Oberarm zur Schulter vorarbeitete. Einen Augenblick später kam es in seinem Nacken aus dem Kragen heraus. Er hopste herum wie ein Wahnsinniger, fluchte und schlug nach dem Ding. Er fühlte es feucht an seiner Handfläche und für einen winzigen Moment glaubte er, es zerquetscht zu haben. Aber dann war es direkt in seinem Nacken.
Und dort wollte es hin! Das Vampir-Ei senkte sich wie Quecksilber in Agurskys Haut und setzte sich an seinem Rückgrat fest.
Unbeschreibliche Schmerzen überfluteten augenblicklich seinen Körper, seine Gliedmaßen, seinen Verstand. Rein instinktiv, wie ein Mann, der an eine Stromleitung gefasst hat, sprang er hin und her. Er prallte gegen eine Wand, stolperte benommen von ihr weg und fiel auf die Knie. Irgendwie gelangte er wieder auf die Füße und wankte durch den Raum. Er watete durch ein Meer von Schmerzen. Er musste etwas unternehmen, aber dieses schreckliche ... dieses unerträgliche ...
Rote Raketen explodierten, brannten sich durch sein Hirn. Irgendjemand – irgendetwas – träufelte Säure auf Nervenenden, die so empfindlich waren, als wären sie dafür extra sensibilisiert worden. Agursky schrie, und als die ganze Welt um ihn herum rot wurde, sah er seine einzige mögliche Rettung: den schwarzen Alarmknopf in dem rotgeränderten Glaskästchen an der Wand.
Bevor er das Bewusstsein verlor, fand er gerade noch die Kraft, die Scheibe dieses Kastens einzuschlagen ...
SECHSTES KAPITEL
Harry saß am Ufer des Flusses und sprach mit seiner Mutter. Er glaubte, allein und unbeobachtet zu sein, aber auch wenn das nicht stimmen sollte, machte es keinen Unterschied: Niemand würde sich über einen verrückten Einsiedler aufregen, der am Ufer saß und mit sich selbst redete. Denn er vermutete, dass ein paar der Einheimischen ihn so sahen, als einen exzentrischen Sonderling, jemanden, vor dem man sich hütete, auch wenn er eigentlich harmlos war. Er hegte diesen Verdacht, aber es kümmerte ihn nicht sonderlich. An ihrer Stelle würde er über sich wahrscheinlich genauso denken.
Manchmal wünschte er sich sogar, an ihrer Stelle zu sein, ein normales, gewöhnliches, alltägliches Leben zu führen. Homo sapiens alltagiensis. Aber er führte nicht ihr Leben, er führte sein eigenes Leben und das konnte man schwerlich als normal bezeichnen. Er war ein Necroscope, und soweit er das sagen konnte, war er der einzige Necroscope auf der Welt. Es musste noch mindestens einen weiteren geben, seinen Sohn, aber Harry junior befand sich nicht mehr auf dieser Welt. Oder falls doch, dann wusste Harry nicht, wo.
Harry sah zwischen seinen Knien und den baumelnden Beinen hindurch auf sein eigenes Gesicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Er beobachtete, wie sich die ausdruckslose Miene zu einem zynischen Grinsen verzerrte. ›Sein eigenes Gesicht‹ war nicht ganz der richtige Ausdruck, denn dieses Gesicht war nicht sein eigenes. Das heißt, jetzt schon! Aber früher war es das Gesicht von Alec Kyle gewesen, der das britische E-Dezernat geleitet hatte. Und doch schien Harry auch sich selbst zu sehen – den Harry Keogh, der er einmal gewesen war –, wie eine Maske über das andere Gesicht gelegt, so dass sich ein Anblick ergab, der nicht ganz so fremd wirkte. Jetzt nicht mehr. Aber er hatte acht lange Jahre gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Acht Jahre, in denen er morgens aufgewacht war, in den Spiegel gesehen und sich gefragt hatte: Mein Gott! Wer ist das? Schließlich war die Frage bedeutungslos geworden. Er wusste, wer das war: er selbst, wenn schon nicht sein Körper, so doch sein Geist.
»Harry?« Der plötzlich besorgte Tonfall seiner Mutter durchbrach seine widersprüchlichen Gedanken.
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