Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
vergessen.«
»Holzsplitter?«
»Ja. In seinem Rücken und der Rückseite seiner Beine steckten ungefähr zehn riesige Splitter. Ich habe keinen Schimmer, wie sie dort hingeraten sind.«
Der Koch erschien und knallte zwei Teller und einen Korb mit Graubrot auf den Tisch. Die Eier schwammen wie tropische Plattfische in einer Pfütze aus Fett.
»Kaffee kommt gleich«, sagte der Koch. In Civilais Ohren klang das wie eine Drohung. Er schob seinen Teller von sich und wandte sich wieder Siri zu.
»Sag mal, wo wurde der Junge noch gleich angespült? In Muang Khoun?«
»Si Phan Don.«
»Na also. Hundertfünfzig Kilometer fern der Heimat, nachdem er wer weiß wie viele Stunden vom Fluss mitgerissen worden war. Dabei ist er doch bestimmt mit Sinkholz oder Baumstümpfen in Berührung gekommen?«
»Daran habe ich auch gedacht«, sagte Siri und schaufelte die Eierpampe in sich hinein, als sei sie tatsächlich essbar. »Ebenso die Familie. Aber denk doch mal nach. Die Strömung des Mekong ist noch nicht allzu stark. Holz, das Monate, wenn nicht gar Jahre unter Wasser gelegen hat, ist butterweich. Splitter kann man sich nur an trockenem Holz einziehen. Und wenn die Verletzungen tatsächlich vom Fluss herrühren würden, müsste sein ganzer Körper mit Splittern gespickt sein und nicht nur die Rückseite.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß auch nicht. Die Tatsache, dass unser Land schon bald in Anarchie versinken könnte, hat natürlich Vorrang. Trotzdem habe ich der Mutter versprochen, mich ein wenig umzutun. Das Dorf hat mich für meine Bemühungen mit einem halben Dutzend Schlammkarpfen entlohnt.«
»Mmm. Schlammkarpfen esse ich für mein Leben gern.«
»Das geht mir ähnlich. Darum haben Daeng und ich sie gestern Abend auch vollzählig verputzt. Tut mit leid. Wie gesagt, haben wir erstens einen weitaus größeren Fisch an der Angel und in dieser Hinsicht zweitens einen entscheidenden Durchbruch erzielt.«
Civilai war das Kunststück gelungen, sein Spiegelei auf seine Gabel zu spießen. Nun hielt er es über seinen Teller und sah dem Fett beim Tropfen zu. »Ach ja?«
Siri erzählte ihm alles: die Teufelsvagina, die Verbindung zu den Flüchtlingslagern, der Kurierdienst. Noch während er erzählte, bemerkte er, dass die Geschichte nicht halb so schlüssig klang wie noch am Abend zuvor. Civilai fasste seine Zweifel in Worte.
»Deine Freundin Daeng hat gute Arbeit geleistet. Aber das Ganze klingt doch ziemlich weit hergeholt, findest du nicht auch? Mythen, Legenden und Kurierdienste ergeben zusammengenommen noch lange keinen in thailändischen Flüchtlingslagern ausgeheckten Putsch.«
»Ich weiß, aber wir sind jetzt seit fast einer Woche hier. Haben wir vielleicht etwas Besseres zu bieten? Haben deine ›Leute‹ dir irgendwie weitergeholfen? Mal ehrlich. Ich merke doch, wie frustriert du bist. Du hast nicht besonders viel erreicht, stimmt’s?«
»Leider nicht.«
»Dann ist das allemal besser als nichts. Was haben wir schon zu verlieren?«
Civilai entschied sich gegen das Ei und ließ es auf den Teller zurückplumpsen.
»Gar nichts. Also frisch ans Werk. Ich setze mich mit meinen Kontakten in Vientiane in Verbindung, vielleicht habe ich Glück und bekomme etwas heraus. Ich nehme doch an, wir haben unsere Leute, die in den Lagern nach dem Rechten sehen.«
»Du meinst Spitzel?«
»Beobachter. Wenn dort ein weitreichendes Komplott geschmiedet würde, dürfte ihnen das schwerlich entgangen sein. In den Lagern spricht sich so etwas schnell herum. Trotzdem müssen wir aufpassen, mit wem wir über die Sache reden. Es genügt, dass du deine Freundin Daeng ins Vertrauen gezogen hast.«
»Nun ja …«
»Was?«
»Daeng und Phosy.«
»Wie, um alles in der Welt, hast du es geschafft, Phosy zu benachrichtigen? Du bist doch vor ein paar Minuten erst aus dem Bett gefallen.«
»Ich habe ihm gestern Abend noch einen Brief geschrieben. Daeng hat versprochen, ihn gleich heute Morgen zum 6-Uhr-Bus nach Vientiane zu bringen. Sie kennt den Schaffner. Sie wollte ihn bitten, den Brief bei seiner Ankunft in der Pathologie abzugeben.«
»In der Pathologie? Dann ist Dtui also auch im Bilde.«
»Ich bitte dich, älterer Bruder, wenn wir überhaupt jemandem trauen können, dann doch wohl Dtui und Phosy. Die beiden waren schließlich von Anfang an dabei.«
»Ich zweifle ja auch nicht an ihrer Integrität. Aber ich mache mir Sorgen um ihre Sicherheit. Wir befinden uns in einer äußerst heiklen Situation, und den beiden eilt
Weitere Kostenlose Bücher