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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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nicht ganz zu Unrecht der Ruf voraus, mitunter grob fahrlässig zu handeln. Wir können nur hoffen, das sie keine Dummheiten anstellen.«

11
DUMMHEITEN
    Das Flüchtlingspärchen wartete, bis es Nacht geworden war, bevor es versuchte, über den pechschwarzen Mekong nach Thailand überzusetzen. Da kein Mond am Himmel stand, konnten die beiden sich nur an den vereinzelten Lichtdolchen orientieren, die ein Stück flussabwärts durch die dichte Wolkendecke stachen. Wären sie nicht gewesen, hätte die Finsternis sie glatt erdrückt.
    Die Fahrt über staubige, mit Schlaglöchern gespickte Straßen hatte ihnen nicht nur blaue Flecken und eine ausgedörrte Kehle, sondern vor allem schlechte Laune beschert. Dabei war Phosy bereits mürrisch und gereizt gewesen, lange bevor sie in Vientiane den Bus bestiegen hatten. Schon als er im provisorischen Polizeihauptquartier auf die gefälschten laissez-passers gewartet hatte, wäre er vor Wut fast geplatzt. Er war es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen, und trotzdem hatte er sich von seinen ursprünglichen Plänen abbringen und sich zu diesem leichtfertigen Unterfangen überreden lassen. Er wusste, dass es Wahnsinn war. Und ihn obendrein den Job kosten würde. Andererseits: Wenn ihre Mission fehlschlug, gab es sowieso keinen Job mehr zu verlieren.
    Was das betraf, hatte Dtui recht gehabt. Genau wie mit ihrer Vermutung, dass ein Pärchen in Thailand weniger Aufmerksamkeit erregen würde als ein einzelner Mann. Flüchtlinge kamen entweder in Familienverbänden oder in großer Zahl. Ein Mann ohne Begleitung konnte eigentlich nur ein Spion sein, ein kommunistischer Unterwanderer. Wäre er allein losgezogen, hätte der thailändische Grenzschutz ihn wahrscheinlich erschossen. Dtui hatte eigentlich mit allem recht gehabt, und genau deshalb schmollte er. Süffisant und selbstgefällig hatte sie sämtliche Gründe aufgezählt, warum sie unbedingt mit nach Ubon kommen müsse, und mangels schlagkräftiger Gegenargumente hatte er versucht, sich mit einem klassischen Polizistenspruch aus der Affäre zu ziehen: »Weil ich es sage.«
    Da hatte sie ihn ausgelacht, ihm frech ins Gesicht gelacht, und er war sich so klein vorgekommen wie die Schaben, die im Sektionssaal um ihre Füße wuselten. Sie hatte ihm den Brief noch einmal gezeigt: unleserliches Gekrakel, das außer Dtui, die seit über einem Jahr die Notizen ihres Chefs zu dechiffrieren pflegte, kaum jemand hätte entziffern können. Der Text war reichlich verquast, als habe der Doktor unter Medikamenteneinwirkung gestanden, aber es gab keinen Zweifel, an wen er gerichtet war:
    »Liebe Dtui«, begann er. »Bitte geben Sie diese Nachricht an Phosy weiter.« Siri und Civilai betrachteten sie offenbar als ihre vorrangige Kontaktperson. War das nicht auch entwürdigend? Im Grunde blieb ihm keine Wahl. Zwar war in dem Brief nicht explizit die Rede davon, dass sie sich in das Lager begeben sollten; er ermahnte sie vielmehr, bis auf Weiteres nichts zu unternehmen. Aber wie lange sollten sie eigentlich noch tatenlos herumsitzen und warten?
    Und hier waren sie nun, in ihren einfachsten Kleidern, mit einem kleinen Bündel von eilig zusammengeklaubten Papieren. Auf dem Grundbuchauszug und der Heiratsurkunde standen Phosys Name und der seiner Frau. Phosy war schon lange vor dem Einmarsch der Kommunisten in Vientiane ein Agent der Pathet Lao gewesen. Nach der Machtübernahme hatte man ihn in den Nordosten entsandt, um dort eine Spezialausbildung zu absolvieren und seinen Dienstherren zu beweisen, dass er seinen Idealen trotz des Lotterlebens in der royalistischen Hauptstadt treu geblieben war. Er hatte seine Tarnung auch unter dem neuen Regime beibehalten und überall verbreitet, er werde zur Umerziehung geschickt. Bei seiner Rückkehr sechs Monate später hatte er sein Haus verlassen vorgefunden. Seine Frau war mit den Kindern ohne ein Wort der Entschuldigung über den Fluss geflohen. Seitdem hatte er nichts mehr von ihnen gehört. Achtzehn Monate hatte er vergeblich darauf gehofft, dass sie sich melden oder zurückkommen würde, dann hatte er die Scheidung eingereicht, wegen böswilligen Verlassens.
    Jetzt würde Dtui unter ihrem Namen reisen, als Frau eines Tempelhandwerkers, eines Fachmanns für Reliefschnitzereien. Es war die perfekte Tarnung: ein Beruf, der bei den agnostischen sozialistischen Behörden als verpönt galt. Dass die Thais Phosy als Flüchtling anerkennen würden, stand so gut wie fest, und Dtui war die Idealbesetzung für den Part der

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