Briefe aus dem Gefaengnis
diesen Bedingungen wunderbar – mit Würde, Furchtlosigkeit und, wenn man so will, mit einem gewissen Trotz.
Ich habe meine eigene Geschichte. Normalerweise mag ich die Reichen nicht. Ich habe ein sehr feines Gespür für soziale Gerechtigkeit, manchmal schäme ich mich für die Reichen. Das ist mein ganz persönliches Vorurteil, und ich gebe es offen zu. Auch andere Menschen haben unbegründete Vorurteile: Manche mögen keine Juden, andere keine Tadshiken, wieder andere keine Polizisten, und wieder andere keine Pitbulls.
Ich habe mich weder für Jukos noch für Chodorkowski besonders interessiert, bis ich auf Reisen durch unser weites Mutterland feststellte, dass Chodorkowskis Programme überall liefen – egal wohin ich kam: in Kinderheimen, Gefängniskolonien, in Schulen und Universitäten.
Und ich selbst, das muss gesagt werden, habe vor einigen Jahren an der Stanford-Universität studiert, die von einem Hardcore-Kapitalisten mit sehr zweifelhaftem Ruf, Leland Stanford, erdacht und erbaut worden war. Ich beschäftigte mich intensiv mit dieser Geschichte und begann, Stanford zu bewundern. Und ich verstand, dass es nicht genügend solche Menschen in unserem Land gibt. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten wir viele von ihnen – die Botkins, die Soldatenkows, die Schischkins, die Chludows, die Tretjakows, doch das Sowjetregime hat sie ausgelöscht. Genau das war der Moment, in dem ich Michail Borissowitsch Chodorkowskis große Menschenfreundlichkeit erkannte,
und ich fühlte und dachte: Unser Fall ist gar nicht so aussichtslos.
Und kurze Zeit später warfen sie Chodorkowski zu Boden, nahmen seine Firma und rissen sie – so scheint es – ein oder zerstückelten sie; und was von einem riesigen, herrlich organisierten philanthropischen System der Nächstenliebe übrig blieb, war nur ein Internat für Waisen in Koralowo. Es abzureißen und sich das teure Grundstück zu greifen, ist bisher noch nicht gelungen.
Kurz gesagt, ich mochte Chodorkowski immer mehr – so sehr, dass ich über seine Anwälte mit ihm in Kontakt trat. Ich stellte einige Fragen und erhielt Antworten, die mich sehr zufriedenstellten.
Jetzt weiß ich über die Umstände dieses Falls besser Bescheid als vor einem Jahr. Alles ist viel schlimmer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Man kann es auch positiv betrachten: Letztendlich haben sie ihn nicht am dritten Tag, nach einer Verurteilung durch die »Trojka« im Keller der Lubjanka 5 erschossen, sie haben ihn nicht mit radioaktivem Plutonium oder giftigen Würstchen umgebracht, sie haben einen teuren Prozess organisiert. Sie haben ihn in Tschita festgehalten, von wo sie ihn nicht etwa in einer Tepluschka 6 , sondern in einem Flugzeug nach Moskau zum Prozess gebracht haben – und das bei den Kerosinpreisen. Sie zahlen den Lohn für den Richter, die Staatsanwälte, die Wachmänner, die Putzfrauen, den Chauffeur, der Chodorkowski und Lebedew
mit einem furchtbar teuren gepanzerten Ungetüm zu vier Verhandlungen pro Woche fährt.
Wir, die Steuerzahler, bezahlen diese dauerhafte Verhöhnung des gesunden Menschenverstands. Wir, die Bürger, können nichts tun, um diese Farce zu beenden. Wir, die Eltern unserer Kinder, die wir in diesem Land leben müssen, können nichts tun, um etwas zu ändern, das alle hassen. Das ist gefährlich für die Zukunft.
Ich bin – für Chodorkowski und Lebedew. Gegen Absurdität und Rechtlosigkeit. Gegen untalentierte Mittelmäßigkeit und Lügen.
1.
15. Oktober 2008
Sehr geehrter Michail Borissowitsch!
Es hat sich eine Möglichkeit ergeben, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, worüber ich mich sehr freue. In meiner Familie gibt es zwei Großväter, die zusammengenommen über zwanzig Jahre gesessen haben, und auch meine Sechziger-Jahre-Freunde haben ihr Scherflein beigetragen. Dazu kommt, dass dieses Thema für die russische Literatur ganz wesentlich ist – für mich so wesentlich, dass ich letzten Monat sogar ein Vorwort zum Buch »Durch die Gefängnisse« von Eduard Limonow geschrieben habe, den ich für eine sehr vielseitige, aber fragwürdige Figur halte. Außerdem betreue ich zur Zeit ein Buch für Kinder mit dem Titel »Verbrechen und Strafe«, in dem es um dasselbe Thema geht – die Geschichte der Gefängnisse, Formen von Strafen und dergleichen. Wenn wir wirklich zusammenfinden – was ich mir sehr wünsche –, dann wäre es das, worüber ich gern mit Ihnen sprechen würde. Wie Sie wissen,
gibt es ja zwei Standpunkte: Solshenizyn meinte, dass die
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