Briefe aus dem Gefaengnis
vom Tag vor dem Prozess. Jetzt, in diesem Augenblick, läuft die Verhandlung, und am Abend werden wir aus dem Radio etwas darüber erfahren – höchstwahrscheinlich etwas Unerfreuliches.
Ihr Brief hat mich bestürzt. Er hat mich in eine andere Realität hineingeschleudert: Es ist, als lebten wir an verschiedenen Enden des Universums. Und doch gibt es eine wesentliche Gemeinsamkeit, nämlich das bewusste Verhältnis zum eigenen Lebensweg. Der Ort, an dem dieses Bewusstsein in Ihrem Fall so produktiv wird, ist das Gefängnis im Quadrat – denn was ist ein Karzer in einer Haftanstalt anderes? Tiefer kann man nicht fallen. Und zugleich – auf welcher verblüffenden Höhe sich ein ungebrochener Geist und konzentriert arbeitender Verstand wie der Ihre bewegen kann! So sitzt ein tibetischer Mönch in eisiger Wüste und heizt mit seinem warmen Gesäß oder auf andere, uns unbekannte Weise eine Wiese, auf der plötzlich Gras und Blumen sprießen. Und zugleich gedeihen auf dieser Wiese seltene Früchte der Erkenntnis – des eigenen Selbst, der umgebenden Welt, des Mitgefühls und der Geduld. Wahrhaftig, die Jungs da oben machen Sie nicht nur berühmt – bei dem, was mit Ihnen geschieht, könnte auch ein weiser Guru, ein geistiger Lehrer, ein Starez 7 oder dergleichen die Regie führen.
Schon immer hat mich der Strom fasziniert, in dem der Mensch von seiner Geburt bis zum Tod schwimmt. Der
Strom trägt dich, und du folgst der Strömung, bald treibst du in der Mitte des Stroms, bald veränderst du selbst die Richtung. Und immer gibt es einen Ausgangspunkt, an dem du dein Leben als Teil des großen Stroms begreifst, und danach kommen Momente der »Umorientierung«. Eine hochinteressante Geschichte – das einzelne menschliche Schicksal. Ich denke, Sie können darüber mehr erzählen als viele, denen das Leben keine so extreme und vielfältige Erfahrung beschert hat. Sie haben Zeit zum Nachdenken bekommen. Zwangsweise. Aber Sie haben sich als guter Schüler erwiesen. Und darüber möchte ich mit Ihnen reden.
Nehmen wir den Ausgangspunkt: Ihre Kindheit, Ihre Familie, Ihre Einstellungen und Absichten. Wie sahen Ihre Lebenspläne aus zu der Zeit, in der man über solche Dinge nachdenkt?
Bei mir geschah das sehr früh: Meine Eltern waren mehr oder weniger Wissenschaftler. Klassische »subalterne wissenschaftliche Mitarbeiter«, wenn auch promoviert. Also orientierte auch ich mich auf die Wissenschaft – konkret auf die Biologie, und in meiner Vorstellung harmonierten die Idee vom »Dienst an der Menschheit«, die Befriedigung der Eitelkeit und die irrige Vorstellung, die Wissenschaft sei das freieste Betätigungsfeld, prächtig. Natürlich bröckelten all diese Illusionen mit der Zeit. Und wie sahen Sie als Kind Ihre Zukunft? Was war Ihr Lebensentwurf, als Sie jung waren ? Ich weiß natürlich, dass Sie im Komsomol 8 waren, sogar ein Amt hatten – in einer Sphäre, die für mich (ich bin 15 Jahre älter als Sie) vollkommen inakzeptabel war. Wahrscheinlich fühlten Sie sich dort unter Ihresgleichen, oder Sie
tarnten sich zumindest als »Komsomolfunktionär«, und später fühlten Sie sich im Milieu der »Oligarchen« zu Hause, das wieder seine eigene Lebensform hat, die dem einfachen Volk spannend und faszinierend scheint. Sie haben eindeutig die Grenzen des Erlaubten überschritten (vollkommen bewusst, wenn ich es recht sehe). Sie verletzten das ungeschriebene Gesetz (bewusst oder unbewusst), das heißt, Sie überschritten die Grenzen des Erlaubten in jenem hochgestellten Kreis, wohin mein Blick nicht dringt und ehrlich gesagt auch nie dringen wollte.
Jeder von uns legt seine eigene Grenze fest, die er nicht überschreitet. Ein Beispiel: Meine Freundin Natascha Gorbanewskaja stellte sich 1968 mit ihrem drei Monate alten Kind protestierend auf den Roten Platz und wurde dafür in eine Nervenklinik gesperrt. Ihr Selbsterhaltungsinstinkt war, wenn nicht vollkommen abwesend, so doch zumindest geschwächt. Ich wäre auch ohne Kind nicht auf den Roten Platz gegangen. Aus schlichter animalischer Angst. Aber als es am Institut für Allgemeine Genetik, wo ich damals arbeitete, darum ging, auf einer Vollversammlung für eine »Verurteilung« zu stimmen, konnte ich das nicht und stapfte unter den erstaunten Blicken meiner Kollegen in dem Moment aus dem Saal, als die Hand gehoben werden musste. Das war meine Grenze. Eine sehr bescheidene. Der Preis dafür war relativ gering – ich wurde bei der erstbesten Gelegenheit entlassen. Und
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