Briefe aus dem Gefaengnis
ich auch nichts
gegen Putin, obwohl ich meine eigene Meinung über ihn hatte.
Was die »Oligarchenszene« angeht, so habe ich mich immer gegen eine solche Verallgemeinerung gewandt. Wir waren ganz unterschiedliche Leute: Gussinski und Beresowski, Bendukidse und Potanin, ich und Prochorow. Wir hatten völlig verschiedene Ziele und verschiedene Lebensauffassungen. Eher noch könnte man uns in Erdölleute und Metallurgen, Medienleute und Bankiers einteilen – aber auch das trifft es nicht genau.
Verehrte Ljudmila Jewgenjewna, ich glaube, ich kann sagen, ich bin ein Voltairianer, ein Anhänger des freien Denkens, der Freiheit des Wortes. In dieser Hinsicht war Jelzin mein Ideal, wie zuvor Jagodin. Die Arbeit mit ihm rief keinen inneren Widerstand bei mir hervor.
Die Zerschlagung von NTW 11 (ich versuchte den Sender finanziell zu unterstützen, was mir in meinem ersten Prozess zum Vorwurf gemacht wurde) wurde zu meinem »Rubikon«. Die Zerschlagung der Mannschaft, nicht der Eigentümerwechsel, damit Sie mich nicht falsch verstehen.
Hier breche ich erst einmal ab. Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Ich hoffe auf Fortsetzung unseres Gesprächs.
Hochachtungsvoll,
M.
5.
18. November 2008
Sehr geehrter Michail Borissowitsch!
Ihr Brief hat mich überrascht: Das halbe Leben lang basteln wir an unseren Vorurteilen und Klischees, dann nehmen sie uns die Luft, und Jahre später, wenn sie zusammenbrechen, sind wir froh über die Befreiung. Ich rede vorerst nur von meinen Vorstellungen. Mit der Zeit, hoffe ich, werden wir auch zu den Ihren kommen.
Also. Ihre Eltern waren solide, gesunde Angehörige der Generation der »Sechziger« – Ingenieure, Praktiker, ehrlich und anständig; Ihr Vater, eine Gitarre in der einen und ein Glas in der anderen Hand, fröhlich und lebhaft, und Ihre Mutter, immer und überall bereit, Gäste aufzunehmen oder einer Freundin in einer schwierigen Lage zu helfen. Auch ihr Verhältnis zur Sowjetmacht war klar: Sie kann uns mal … Die Kinder der »Sechziger«, die in der neunten Klasse Schreibmaschinenkopien von Solshenizyns »Archipel Gulag« und Orwells »1984« lasen, wandten sich angeekelt von der Regierung ab und schrieben bestenfalls ihre Dissertation, arbeiteten als Ärzte oder Fahrstuhlführer oder beteiligten sich an der sozialen Bewegung, die später als »Dissidenz« bezeichnet wurde.
Manche dieser Kinder saßen als Erwachsene in den 1970er und 1980er Jahren im Gefängnis oder im Lager, ein Teil emigrierte in den Westen. Sie aber blieben davon irgendwie verschont, passten sich an den damaligen Mechanismus an, fanden Ihren Platz darin und arbeiteten effektiv. Besonders rührend ist die Unschuld, mit der ein junger Mann wie Sie bereit war, auch für die Rüstung zu arbeiten, weil man ja die Heimat verteidigen musste.
Zwei Jahrzehnte Altersunterschied schließen eine Situation aus, die man sich leicht ausmalen könnte, wären wir gleich alt. Als ich mit einem Touristenreisescheck in der Tasche voller Abscheu ins Komsomol-Komitee der Fakultät ging, um meine Beurteilung abzuholen, saßen dort entweder eingefleischte Karrieristen oder Idioten – und ich musste ihnen die Frage beantworten, wer in Bulgarien Sekretär des ZK sei. Das war in den 1960er Jahren, und Sie saßen Anfang der 1980er dort, oder im Büro nebenan. Zweifellos gehörten Sie zu einem Kreis von Menschen, mit denen ich, gelinde gesagt, nicht befreundet war.
Und nun stellt sich heraus – und das hat mich an Ihrem Brief erstaunt –, dass der eine oder andere dieser Leute in den 1980er Jahren vielleicht positive Motive hatte. Dort saßen zum Beispiel Sie, ein begabter junger Mann, der Betriebsdirektor werden, der auf sinnvolle und richtige Weise etwas produzieren wollte, vielleicht auch Waffen zum Schutz der Heimat. Und Sie erlebten dort, in Ihrer Umgebung, »Progressive« wie Jelzin und »Rückwärtsgewandte« wie Ligatschow. Sie befanden sich im Inneren des Systems, und Sie fanden dort Ihren Platz und scharten eine Mannschaft um sich. Sie schreiben, die Ideologie habe Sie nie interessiert, wichtig sei Ihr »Führungsstreben« gewesen. Aber dieses Streben ist doch nur eine höflichere Definition von Karrierismus.
Karrierismus meine ich nicht als Schimpfwort. Karriere gehört für einen normalen Mann zum Leben unbedingt dazu. Und heute auch für Frauen. Nur schien mir immer, dass ein anständiger Mensch die Spielregeln in diesem System nicht akzeptieren kann. Doch Sie waren ja ein Junge aus einer anständigen
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