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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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begann Bücher zu schreiben. Wo lagen Ihre ethischen Grenzen in Ihrer Jugend? Wie haben sie sich mit der Zeit verändert?
    Ich bin ganz sicher, dass Sie darüber nachgedacht haben, ich habe auch einige Äußerungen von Ihnen dazu gelesen. Aber damit unser Gespräch fruchtbar wird, sollten wir
Schritt für Schritt bis zum heutigen Tag gehen. Übrigens will ich Ihnen nicht verhehlen, dass wir aus dem Radio heute erfahren haben, dass Sie nicht auf Bewährung freikommen.
    Das Gericht versteht sein Geschäft. Wir hatten nichts anderes erwartet. So haben wir nun also noch eine unbestimmte Zeit für unser Gespräch über dieses abstrakte, aber interessante Thema und können unseren Briefwechsel fortsetzen.
    Hochachtungsvoll,
    Ljudmila Ulitzkaja
     
    4.
    10. November 2008
    Sehr geehrte Ljudmila Jewgenjewna!
    Danke für Ihren Brief und Ihr Interesse.
    Meine Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft (emotional), das heißt, an emotional Gefärbtes erinnere ich mich, an alles andere kaum.
    Manchmal gibt es auch Verschiebungen im Gedächtnis, das heißt, ich erinnere mich an Dinge, die mir in Wirklichkeit meine Eltern erzählt haben. Dennoch – »ganz deutlich« wollte ich schon als Kind Betriebsdirektor werden. Was im Grunde nicht verwunderlich ist: Meine Eltern haben ihr ganzes Leben in einem Betrieb gearbeitet, der Kindergarten gehörte zum Betrieb, das Ferienlager genauso, und der Betriebsdirektor war überall der wichtigste Mann.
    Meine Eltern, das ist mir heute klar, mochten die Sowjetmacht ganz und gar nicht, versuchten aber, keinen Einfluss auf mich auszuüben, weil sie glaubten, mir sonst das Leben zu verderben. So wuchs ich als »rechtgläubiger« Komsomolze
auf, ohne den geringsten Zweifel daran, wer meine Freunde waren und wer meine Feinde.
    Bei der Wahl meines Lebensweges entschied ich mich nicht nur allgemein für die chemische Industrie, sondern für deren Rüstungszweig, denn ich meinte, das Wichtigste sei der Schutz vor »äußeren Feinden«.
    Die Komsomol-Arbeit am Institut war natürlich nicht Ausdruck meiner politischen Gesinnung, sondern meines Führungsstrebens. Um Ideologie habe ich mich im Grunde nie gekümmert, mein Metier war die organisatorische Arbeit.
    Baubrigaden, Betriebspraktikum – das alles gefiel mir sehr, weil es mir die Möglichkeit gab, mich als Praktiker, als Manager zu verwirklichen.
    Als ich nach dem Studium eine Stelle in einem Ministerium (bei der Bergbauaufsicht) zugewiesen bekam, war ich furchtbar enttäuscht, denn ich wollte in einen Betrieb; also bewarb ich mich stattdessen beim Kreiskomitee des Komsomol.
    Dann kamen die Zentren für Technische Innovation, 9 die eigene Firma, die Verteidigung des Weißen Hauses …
    Interessanterweise hatte mir der Parteisekretär meines Instituts 1987 vorgeschlagen, meine Komsomol-Laufbahn fortzusetzen, und war verblüfft, als ich den »Betriebswirtschaftskram« vorzog.
    Was die persönlichen Grenzen angeht, so bestanden sie
für mich vor allem in einem: niemals meine Position unter dem Druck von Macht statt von Argumenten zu ändern. Wir hatten einen wunderbaren Rektor, Gennadi Jagodin. Er nannte mich »seinen widerspenstigsten Sekretär« (gemeint war mein Amt als Sekretär der Komsomol-Leitung der Fakultät). Natürlich hätte er mich mühelos brechen können, aber er tat es nicht, sondern ließ mich meinen Charakter festigen. Leider verließ er 1985 das Institut, er wurde befördert.
    Ich hatte auch ein zweites Mal Glück. Die Leiterin des Parteikomitees unseres Moskauer Stadtbezirks war die Kislowa, und im Politbüro saß der Minister für Baustoffindustrie Boris Jelzin. Die beiden gaben mir ein echtes Beispiel in Sachen Mut, als gegen sie gehetzt wurde und sie sich nicht beugten. Kislowa stand fest hinter Jelzin, lieferte ihn nicht ans Messer. Was sie das gekostet hat, kann ich mir gut vorstellen.
    Apropos – 1999 wurde Jegor Ligatschow für das Gebiet Tomsk, wo ich damals arbeitete, in die Duma gewählt, und er hetzte auf alle mögliche Weise gegen mich. Ich verbot unseren Leuten, ihn ebenfalls zu attackieren, obwohl es mehr als genug Material dafür gegeben hätte – aber er war schon ein sehr betagter Mann.
    Ich fühlte mich als Mitglied von Jelzins Mannschaft. Als einer von sehr vielen. Deshalb ging ich 1991 das Weiße Haus verteidigen und 1993 den Bürgermeistersitz, und darum gehörte ich 1995 bis 1996 zum informellen Wahlkampfstab. Das war vermutlich die gefährlichste Aktion meines Lebens (fast). Wegen Boris Nikolajewitsch 10 sagte

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