Briefe aus dem Gefaengnis
Familie. Wie konnten Sie
dann als »gläubiger« Komsomolze aufwachsen, ohne den geringsten Zweifel, wer Freund war und wer Feind? Offenbar ging das also doch. Ich habe keinen Grund, Ihrer Analyse zu misstrauen. Demnach war meine absolute Ablehnung aller parteigebundenen oder parteinahen Personen ein Vorurteil. In den 1980er Jahren hatte sich die Führung des Landes bereits von jeglicher Ideologie verabschiedet (und nicht nur sie, alle bis hinunter zur Kindergärtnerin). Es blieb nur eine leere Hülle.
Jetzt sehe ich, dass mein Bild nicht vollständig war. Vielleicht sogar ganz falsch. Mein Abscheu gegen das Sowjetsystem war so groß, dass ich es für ausgeschlossen hielt, dass man sich in diesem spätkommunistischen Milieu an irgendwem orientieren, jemandem vertrauen konnte. Sogar ein Idol finden. Jelzin war für mich nur ein gewöhnlicher Parteifunktionär, und als damals alle meine Freunde zum Weißen Haus liefen, saß ich zu Hause und fragte mich traurig: Warum habe ich keine Lust, mit den anderen zur Demonstration zu gehen?
Nach ein paar Tagen sagte ich mir: Wenn es eine Lustration gibt, wie die Entnazifizierung in Deutschland nach dem Krieg, dann werde ich daran glauben. Es gab einen großen Enthusiasmus, den ich nicht teilen konnte. Eine solche Reinigung gab es nicht: Fast alle hohen Beamten blieben, wechselten allenfalls den Posten, nur wenige wurden verjagt.
Mir ist klar, dass Jelzin Charisma hatte, große Pläne und gute Absichten. Aber es nahm ein schlechtes Ende – er legte das ganze Land dem KGB in die Hände. Schöne »saubere Hände« waren das. Das räumen auch Sie ein, wie mir scheint, auch wenn Sie es mit anderen Worten ausdrücken.
Wie bewerten Sie heute, zehn Jahre später, die Person Jelzins? Und falls sich Ihr Urteil geändert hat – wann ist das passiert?
Eine Zeit lang glaubte ich, Jegor Gaidars Reformen könnten zu einem funktionierenden Wirtschaftssystem führen, aber er hat es nicht geschafft. Sein Buch über den Fall des Imperiums 12 ist hochinteressant und erklärt vieles, aber leider erst im Nachhinein.
Hatten Sie damals ein bestimmtes Reformkonzept, oder waren Sie vollauf zufrieden mit den großen Möglichkeiten, die sich für Unternehmer eröffneten? Zweifellos waren Sie ja ein sehr guter Direktor eines riesigen Betriebs.
Und schließlich die heikelste Frage. So heikel, dass Sie nicht antworten müssen, dass ich die Frage auch wieder zurückziehe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bekamen Leute, die Jelzin nahestanden, große Teile des Kuchens ab – zur Verwaltung oder als Eigentum. Dieser ersten Verteilung folgte eine Reihe von »Umverteilungen«. Die zum Teil sehr brutal verliefen. Damals waren Sie bereits »Betriebsdirektor«. Wo verlief für Sie in dieser Zeit die Grenze des Erlaubten?
Ach ja, und was Voltaire angeht: Der hat mit seinen Ideen die ganze Welt verrückt gemacht, aber die Kinder, die er mit seiner Dienerin hatte, ließ er in ein Waisenhaus bringen. Oder war das Rousseau? In jedem Fall scheint das eine Art Naturgesetz zu sein: Je erhabener die Ideen, desto hässlicher die Lebenspraxis …
Noch etwas. Eine Korrektur meiner Frage: Welche der
Ideen aus Ihrer Jugend, als Sie davon träumten, »Betriebsdirektor« zu werden, haben Sie sich bewahrt? Welche verloren? Ich meine natürlich Ihr Wertesystem.
Sie hoben sich für mich von den übrigen Oligarchen ab, seit ich in einer Strafkolonie für Minderjährige, die ich zusammen mit befreundeten Psychologinnen besuchte, einen von Ihnen finanzierten Computerraum entdeckte und als ich später in verschiedenen Zusammenhängen auf Spuren Ihrer Stiftung »Offenes Russland« stieß. Vor einigen Jahren, Sie waren bereits verhaftet, war ich im Lyzeum Koralowo, lernte Ihre Eltern kennen und fand eine unglaublich wundervolle Insel für Waisen und Halbwaisen vor. 13 Dergleichen hatte ich noch nirgendwo in Europa gesehen. Auch das ist Ihr Werk.
Sie schreiben, ein Wendepunkt in Ihrem Verhältnis zur Regierung sei die Zerschlagung von NTW gewesen. Tatsächlich hat jeder Mensch seinen »Rubikon«. Doch bis dahin sind Sie mit dieser Staatsmacht, die zusehends jeden Anstand verlor, ja ganz gut zurechtgekommen. Und noch eine direkte Frage: Hatten Sie das Gefühl, dass dieser Prozess umkehrbar war? Wäre NTW erhalten geblieben, hätte sich Ihre Beziehung zum Kreml wieder einrenken können?
Die Presse ist auf der ganzen Welt käuflich und den Regierenden hörig. Der Unterschied liegt lediglich in der Größe des Rohrs, durch das sie die
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