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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Gefängniserfahrung den Menschen abhärtet und an sich wertvoll ist, Warlam Schalamow hingegen, ein weniger glücklicher Lagerinsasse, war der Ansicht, dass sie für das normale menschliche Leben nutzlos ist und sich außerhalb des Gefängnisses nicht anwenden lässt.
    In Juli Daniels letzten Lebensjahren war ich mit ihm befreundet, und obwohl er nur ungern von jener Zeit sprach, gewann ich damals den Eindruck, dass sie für ihn eine wichtige Prüfung gewesen war, die auf eine bereits vorhandene andere Erfahrung traf, nämlich die der Front. Aber für Sie ist noch nicht die Zeit gekommen, sich daran zu erinnern, für Sie geht es um Ihre reale Gegenwart. Wie werden Sie damit fertig? Haben Sie nicht das Gefühl eines bösen Traums? Ich wüsste gern, ob sich Ihr Wertesystem verändert hat: Welche Dinge, die Ihnen in Freiheit wichtig erschienen, haben im Lager ihren Sinn verloren? Gibt es neue innere Antriebe, überraschende Erfahrungen? Dieser Brief – verzeihen Sie! – ist eine Art Herantasten: Sie sind jemand, über den ständig geredet wird, für die einen ein Kämpfer und politischer Aktivist, für die anderen ein Schreckgespenst, doch in jedem Fall wird Ihre Situation unentwegt diskutiert, und das Interesse an Ihnen lässt nicht nach. Anna Achmatowa sagte über Brodsky, als dieser verbannt wurde: »Sie machen unserem Rotschopf eine Biographie. « Ihnen »macht« man wirklich eine Biographie, und ich wünschte, wir könnten darüber in der Vergangenheitsform sprechen. Auch das ist ein Grund, warum ich Ihnen gern begegnen und mich mit Ihnen unterhalten möchte.
    Hochachtungsvoll,
    Ljudmila Ulitzkaja
     
    2.
    15. Oktober 2008
    Sehr geehrte Ljudmila Jewgenjewna!
    Vielen Dank für Ihren Brief und Ihre Unterstützung. Ich verstehe, woher Ihr Interesse kommt. Ein Interesse, muss man sagen, das typisch ist für einen bedeutenden Teil unserer Intelligenzija. Leider, denn Gefängnis ist nicht die beste Erfahrung. In dieser Hinsicht ist mir Schalamow näher als Solshenizyn. Ich denke, der Unterschied im Standpunkt der beiden hat damit zu tun, dass Solshenizyn eine autoritäre, also gefängnisartige Regierungsform zulässig fand. Doch als »Humanist« meinte er, dass ein Angehöriger des Staatsapparates die Peitsche auch auf seinem eigenen Rücken erfahren müsse. Diese Haltung verdient Respekt, aber ich teile sie nicht.
    Das Gefängnis ist ein Ort der Antikultur, der Antizivilisation. Hier ist Gutes böse, Lüge Wahrheit. Gesindel erzieht Gesindel, und anständige Leute sind zutiefst unglücklich, weil sie innerhalb dieses abscheulichen Systems nichts tun können.
    Nein, das ist übertrieben, natürlich können sie etwas tun und tun es auch, aber es ist schlimm mit anzusehen, wie jeden Tag nur Einzelne es schaffen, während Dutzende menschlicher Schicksale untergehen. Und wie langsam und mit wie vielen Rückschlägen Veränderungen vorankommen.
    Mein Überlebensrezept lautet verstehen und verzeihen lernen. Je besser und tiefer du verstehst, dich in einen anderen hineinversetzt, desto schwerer wird das Verurteilen und desto leichter das Verzeihen.
    Am Ende geschieht manchmal ein Wunder: Ein Gebrochener
richtet sich auf und wird ein Mensch im eigentlichen Sinne. Die Gefängnisaufseher fürchten das sehr und begreifen gar nicht, wie es dazu kommt und warum. Mich aber beglücken solche Fälle. Meine Anwälte haben so etwas mehr als einmal gesehen.
    Natürlich wäre es ohne den Rückhalt in der Familie, ohne ihre Unterstützung noch viel schwerer. Aber das ist ebenso ein Vorteil wie ein Unglück für den, der in reifem Alter ins Gefängnis kommt: er hat Familie, Freunde, ein Rückzugsgebiet.
    Die wichtigste Voraussetzung hier ist die Selbstdisziplin. Entweder du arbeitest an dir, oder du verkommst. Deine Umgebung versucht dich einzusaugen, dich aufzulösen. Natürlich ist man manchmal deprimiert, aber das kann man überwinden.
    Überhaupt geht es mir persönlich besser, je härter die äußeren Bedingungen sind. Am besten kann ich in der Einzelhaft arbeiten, dort habe ich das Gefühl des direkten, unmittelbaren Widerstands gegen eine feindliche Kraft. Unter nach hiesigen Maßstäben normalen Umständen ist es schwerer, sich ständig zu mobilisieren.
    Entschuldigen Sie, ich schreibe sozusagen »Randbemerkungen«. Ohne nachzudenken. Morgen ist wieder ein Gerichtstermin.
    Gern würde ich den Dialog mit Ihnen fortsetzen.
    Mit großer Hochachtung,
    M.
     
    3.
    16. Oktober 2008
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Danke für Ihre Antwort

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