Briefe aus dem Gefaengnis
Umwelt verschmutzt. Ging es bei Ihrem Konflikt etwa wirklich um Information,
nicht um Erdöl? Das hieße für mich, dass Sie bei aller praktischen und pragmatischen Ausrichtung Ihre romantischen Illusionen noch nicht verloren haben.
Verzeihen Sie, vielleicht ist einiges in diesem Brief zu hart geraten. Aber das »goldene Zeitalter« ist vorbei. Die Illusionen sind dahin. Zum Überlegen bleibt wenig Zeit. Ich habe das akute Gefühl, dass die Zeit implodiert. Und ich will, solange es nicht zu spät ist, »zum Wesentlichen« vordringen. Das hat zwar noch nie jemand geschafft, aber vielleicht kann ich ihm zumindest möglichst nahekommen.
Noch ein Thema möchte ich gern mit Ihnen erörtern: das Privatleben unter dem Druck der Gesellschaft. Wie bewahrt man seine Würde, seine Werte … Wie verändern sich diese Werte? Verändern sie sich überhaupt? Die spezifischen Erfahrungen, die ein Mensch im Lager macht, lassen sich nicht mit unseren hier vergleichen. Das nur als Ankündigung, worüber ich noch gern mit Ihnen reden würde, wenn es möglich ist.
Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Standhaftigkeit und Ruhe.
Hochachtungsvoll,
Ljudmila
6.
5. Juni 2009
Sehr geehrte Ljudmila Jewgenjewna, ich habe mich sehr gefreut, Ihren Brief zu erhalten. Sie haben mir zu Recht den Kopf gewaschen.
Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich in der damaligen Gesellschaft kein »weißer Rabe« wurde. Das ist mir heute klar, damals war es das nicht. Mehr noch – weder
in der Schule noch am Institut habe ich »weiße Raben« getroffen. Meine Schule lag am proletarischen Stadtrand, mein Institut war ebenfalls durch und durch »proletarisch«, siebzig Prozent der Studenten waren von Betrieben zum Studium delegiert worden. Bei uns gab es überhaupt keine Dissidenten. Besonders an der Universität – ich studierte an einem Institut für Rüstungsforschung –, und wer aus dem Komsomol ausgeschlossen wurde, wurde automatisch auch exmatrikuliert. Was wir alle richtig fanden.
Als Sekretär des Fakultätskomitees weigerte ich mich, Exmatrikulierte automatisch auch aus dem Komsomol auszuschließen, denn ich war überzeugt: Nicht jeder Komsomolze ist zum Studium geeignet. Das Umgekehrte aber erschien mir für ein Rüstungsinstitut vollkommen richtig. Wir mussten schließlich bereit sein, unser Leben für die Heimat zu geben, sogar in Friedenszeiten, und wie konnte man das von jemandem verlangen, der kein Komsomolze oder kein Kommunist war? Das ist kein Scherz, keine Übertreibung. Genau so dachte ich.
»Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« 14 habe ich gelesen, war erschüttert und hasste Stalin, weil er die Sache der Partei für seinen eigenen Personenkult in Verruf gebracht hatte. Breshnew und Tschernenko betrachtete ich mit Spott und Verachtung – Gerontokraten, die der Partei schadeten.
Für Andropow empfand ich Respekt, trotz seiner »Übertreibungen vor Ort«. Sie lachen? Das würde ich auch gern. Kann ich aber nicht.
Als ich während des Studiums in einen Betrieb geschickt wurde, saß ich dort nicht in der Bibliothek, sondern schaufelte Hexogen (Sprengstoff), arbeitete an der Automatenpresse (beinahe hätte ich mich selbst und einen Freund durch eine Unachtsamkeit ins Jenseits katapultiert). Bei der Grundausbildung wurde ich zum Unteroffizier befördert und zum stellvertretenden Politoffizier ernannt, doch ich ließ mich wieder in den Betrieb schicken – alte Granaten demontieren. Wir waren schließlich Komsomolzen, wir mussten dahin gehen, wo es am gefährlichsten war. Also demontierte ich Granaten, unter den verständnislosen Blicken der befehlshabenden Offiziere unserer Fakultät.
Auch das werden Sie kaum glauben: Ich begriff nichts, und sie sagten nichts.
Übrigens legte ich mich offen mit dem Sekretär des Parteibüros an. Ohne die geringsten Befürchtungen. Er kam ins Komsomol-Komitee, wo zwanzig Frauen aus verschiedenen Betrieben und zwei, drei junge Männer saßen – wir stritten mit ihm, und das Komitee stimmte für mich, praktisch einstimmig. Der Parteisekretär beschwerte sich beim Rektor – Jagodin. Die Mädchen schreiben mir übrigens bis heute. Eine von ihnen war meine erste Frau, mit einer anderen bin ich inzwischen seit zwanzig Jahren verheiratet.
Was das Gefühl der Bedrohung durch einen äußeren Feind angeht: Es war ebenso intensiv wie das, zu den mächtigen »Neun« zu gehören, zu einem der Zweige des Militärisch-Industriellen Komplexes.
Übrigens nahm ich als Berater von Silajew 15 an der letzten
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