Briefe aus dem Gefaengnis
persönlichen Krieg Putins gegen Sie? Ich habe die unterschiedlichsten Versionen gehört. Bezeichnenderweise nimmt keiner, nicht ein einziger von denen, mit denen ich darüber sprach, die offizielle Version ernst, die lautet: Jukos hat sich unrechtmäßig fremdes Eigentum angeeignet und vorsätzlich Steuern hinterzogen, wofür die Schuldigen hinter Gitter gekommen sind. Erstens fanden die Transaktionen von Jukos vor aller Augen statt, ohne jede Geheimniskrämerei. Zweitens haben viele gehört, dass Jukos dem Fiskus mehr Steuern gezahlt hat als der heutige Konzern Rosneft, der Jukos geschluckt hat, und das, obwohl der Ölpreis in dieser Zeit auf das Vierfache gestiegen ist.
Ich zähle Ihnen im Folgenden die kursierenden Gerüchte auf, und Sie sagen, welches der Wahrheit am nächsten kommt. Die Version, die der offiziellen Theorie am nächsten kommt (nennen wir Sie Version 1), sieht ungefähr so aus: Alle Oligarchen der 1990er Jahre sind auf dubiose Weise zu ihrem Reichtum gekommen. Der Staat verschaffte ihnen Zugang zu den Bodenschätzen, deshalb mussten sie bestimmte Bedingungen gegenüber der Obrigkeit einhalten. Nachdem Chodorkowski seine Milliarden angehäuft hatte, verstieß er gegen diese ungeschriebene Vereinbarung und gerierte sich als unabhängige gesellschaftliche und politische Kraft. Wenn andere Milliardäre sein Verhalten aufgreifen würden, wäre Russland wieder in die wirren Zeiten der »Herrschaft der
sieben Bankiers« zurückgefallen. Ja, Putin hat gegen Chodorkowski unrechtmäßige und unehrenhafte Methoden angewandt, aber er hatte keine Wahl. Man musste die Oligarchen einschüchtern und sie an die Kandare nehmen.
Version 2, eine romantische Version, hat mir »eine gut unterrichtete Dame« erzählt. Bei einem Treffen Putins mit den Oligarchen sollen Sie es als Einziger gewagt haben, im Rollkragenpulli ohne Krawatte zu erscheinen, woraufhin Putin, der sehr sensibel die äußeren Zeichen des Respekts registriert, gesagt haben soll: »Bei einem Treffen mit Bush hätte er eine Krawatte angezogen!« Seitdem sei er tödlich beleidigt. Dieselbe Dame sagte: »Er kann große Männer grundsätzlich nicht ausstehen.« (Letzteres ist völliger Humbug, dann hätte er Prochorow 36 hinter Gitter bringen müssen.)
Version 3 (aus Regierungskreisen): Gewisse Organe berichteten dem Präsidenten, Chodorkowski plane, Milliarden in das Projekt einer »orangenen Revolution« zu stecken. Die harte, aber einzig richtige Entscheidung des Präsidenten sollte die öffentliche Ruhe sichern.
Version 4 stammt von mir. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein vierzigjähriger Mann mit dem ehrgeizigen Ziel, erfolgreichster Unternehmer der neuen russischen Wirtschaft zu werden, plötzlich feststellt, dass ihm der Reichtum nicht genügt. Ich bin der reichste Mann, und was jetzt? Ich habe jede Menge Kräfte, das halbe Leben liegt noch vor mir, ich will etwas wirklich Bedeutendes tun: beispielsweise Russland helfen, endlich ein zivilisiertes und konkurrenzfähiges Land zu werden. Und dieser Elan hat jemandem ordentlich
Angst eingejagt. Welche Version kommt der Wahrheit am nächsten? Was ist wirklich geschehen?
Chodorkowski: Ursprünglich wollte die Obrigkeit wahrscheinlich einfach belastendes Material gegen einflussreiche Gruppen von Geschäftsmännern haben, aber später kamen radikalere Pläne auf. Ein Gespräch mit dem Präsidenten über die Spielregeln hat tatsächlich stattgefunden. Während dieses Gesprächs (im Jahre 2000) sagte Putin, er erwarte, dass die großen Konzerne sich nicht für die Lösung politischer Aufgaben einspannen ließen. Wir erklärten alle (darunter auch ich), dass wir diese Position unterstützen. Da von ihnen die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Waren und Leistungen abhänge, dürften sich Großindustrielle nicht in die Politik einmischen. Es ist anzumerken, dass Jukos seiner Verpflichtung bis zum Schluss nachkam, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft alles daransetzte, die Lieferungen mit allen Mitteln (inklusive der Sperrung des Produktionseigentums und der Konten) platzen zu lassen. Es ging niemals darum, dass die Unternehmer sich als Person oder durch Lobbyismus aus der Politik heraushalten sollten. Bis 2003 wussten die Präsidialverwaltung und die Regierung, weil wir sie selbst informierten, wem wir halfen und welche Anliegen wir als Lobby unterstützten. All das änderte sich im Jahre 2003. Man kann Vermutungen darüber anstellen, warum. Weil die Wahlen sich näherten oder infolge der
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