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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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wofür man seinen Verdienst ausgeben will. Es
gibt – man denke – ein Recht, sein Land zu verlassen und nach Gutdünken zurückzukehren … All diese »Selbstverständlichkeiten« sind erst vor Kurzem ins Bewusstsein der Machthaber dieser Welt getreten: vor einem Jahrhundert oder zwei. Bei uns in Russland setzen sie sich (nach der verheerenden Pest des Stalinismus) aber erst jetzt langsam durch und gelten bestenfalls für die Hälfte der herrschenden Elite, während die andere Hälfte noch nicht entschieden hat, ob es nicht einfacher und richtiger wäre, alles wieder so wie unter Stalin oder zumindest so wie unter Andropow einzurichten.
    Werden wir von Asketen oder Hedonisten regiert?
    Untersteht ihnen das Volk oder ein bestimmtes Kollektiv?
    All diese Fragen hat Russland schon einmal zu lösen versucht: Ende der zwanziger Jahre. Damals siegten die Asketen, Träger einer reinen eisigen Macht mit unmenschlichem Angesicht. Sie sind auch heute nicht stärker, machen aber ordentlich Lärm und üben Druck aus, so dass man nur hoffen kann, dass sich die Zeiten endgültig geändert haben und die bekannte Losung »Enrichissez-vous!« unsichtbar, aber zum Greifen nah über den politischen Kampfplätzen schwebt. Entschuldigen Sie, wenn Sie finden, dass ich Ihre Frage nicht beantwortet habe, sondern zu sehr meinen eigenen Gedanken nachhänge. Aber was soll ich machen, wenn mich diese Weggabelung der Geschichte heute mehr als alles andere bewegt?
    Ich wünsche Ihnen Gesundheit und Standfestigkeit!

    Über Asketen, Hedonisten und beleidigte Jünglinge, die an der Macht sind
    Sehr geehrter Boris Natanowitsch!
    Vielen Dank für Ihren Brief und Ihre Antwort zum Problem des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit. Ich habe verstanden, dass Sie dieses Problem als nicht so wesentlich für die heutige Situation erachten, weil Sie davon ausgehen, dass die Gesellschaft jegliche die Freiheit beschneidenden Maßnahmen auch ohne die üblichen Hinweise auf die Notwendigkeit, die Sicherheit gewährleisten zu müssen, »schluckt«. Und erst recht ohne einen Vergleich zwischen der Verhältnismäßigkeit der zu erwartenden Bedrohungen und der Härte der zu ergreifenden Maßnahmen zur Einschränkung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit.
    Ich hoffe aber sehr, dass Ihr Pessimismus nicht ganz berechtigt ist und die Gesellschaft sich doch nicht so leicht fügt. Dass sie nicht so widerspruchslos bereit ist, sich der Obrigkeit unterzuordnen, und nicht so sehr der »rührenden Überzeugung anhängt: je größer die Freiheit, desto geringer die Sicherheit«.
    Trotzdem muss ich zugeben, die Aussicht, »die Träger einer reinen eisigen Macht mit unmenschlichem Angesicht« könnten die Herrschaft übernehmen, jagt mir Angst ein. Umso mehr, als das kaum ohne eine Zerstörung des Landes denkbar ist. Zu dieser Schlussfolgerung führen mich recht einfache wirtschaftliche Erwägungen.
    Auf Ihre Frage, ob wir von Asketen oder Hedonisten regiert werden, lautet meine Antwort aus der Kenntnis vieler von ihnen: Wir haben es mit ängstlichen Hedonisten zu
tun. Sie möchten gut leben, ohne Einschränkungen, also nicht wie die Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU, die Angst hatten, bei sich zu Hause eine Klimaanlage einzubauen, weil dann über sie geredet werden könnte. Was ein gutes Leben ist, das wissen sie dank der Globalisierung sehr wohl. Und ihnen ist absolut klar, dass ihnen das »dort« nur gelingen kann, wenn sie »hier« nicht zu viel Unfug treiben, denn die Welt ist in letzter Zeit sehr transparent geworden. Etwas Wichtiges lässt sich nur noch schwer verbergen. Aber bei fest angezogenen Schrauben in unserem Land ist ein gutes Leben »hier« ausgeschlossen, weil der eifrig bemühte Mythos einer belagerten Festung nicht gerade zu einem fröhlichen Leben einlädt. Besonders wenn man von dem mehr oder weniger breiten Kreis der Eliten und deren Kindern spricht.
    Die »asketische« Alternative ist meiner Ansicht nach aus zwei miteinander zusammenhängenden Gründen unwahrscheinlich.
    Erstens, sie tötet die postindustrielle Wirtschaft und in der Folge die Perspektiven des Wirtschaftswachstums, die Konkurrenz- und Verteidigungsfähigkeit eines Landes mit einem so großen Territorium wie Russland und mit derart unruhigen Nachbarn, wie wir sie im Moment haben. Zweitens, diese Alternative braucht eine der Gesellschaft verständliche und für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptable Ideologie, die sie mobilisiert. Der Kommunismus des alten,

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