Briefe aus dem Gefaengnis
habe ich das Experiment der koreanischen und japanischen Wirtschaft eingehend studiert. Und zwar unter Hinzuziehung der besten internationalen Berater im Zusammenhang mit meinem Vorhaben, den Konzern »Rosprom«, eine Art russischen Jaebol, aufzubauen. Ich kam zu dem Schluss: Für die globalisierte Wirtschaft ist dieser Weg strategisch ineffektiv. Ich habe mich in der Folge rigoros von allen Unterabteilungen des Konzerns getrennt, die nicht zu der gewählten Branche gehörten. In den vergangenen zehn Jahren hat die Schlussfolgerung, zu der ich damals kam, ihre Gültigkeit behalten. Durch die Erfahrung der entwickelten Wirtschaften wurde sie sogar noch weiter bestätigt.
Die Konsequenzen der falschen Strukturpolitik der Gegenwart
werden wir mit Sicherheit in den nächsten sieben bis zehn Jahren zu spüren bekommen, wie ich glaube. Diese Konsequenzen werden hart sein. Für das Land, für die Gesellschaft, für die meisten Bürger.
Warum spreche ich von alldem? Weil ich zeigen will, wo ich den wirklichen Problembereich sehe: im halb autoritären System, der Diversifizierung, der Bremsung der Geschwindigkeit des Wirtschaftswachstums auf einem Niveau von völlig unzulänglichen ein bis zwei Prozent. Das sind die Hauptgefahren und Hauptprobleme, die gelöst werden müssen.
Faschismus und Stalinismus schätze ich nicht als solche realen Gefahren ein, als dass man ernstlich seine Kräfte darauf verschwenden sollte. Ja, ich bin sogar der Meinung, dass die propagandistische Aufbauschung dieser wenig wahrscheinlichen Gefahren ein Ablenkungsmanöver der machtnahen Clique ist, um das halb autoritäre System als »kleineres Übel« darstellen zu können.
Natürlich kann man die Nationalisten und die Betonköpfe der Geheimdienste und der Armee nicht ganz außer Acht lassen, aber es ist gefährlich, ihre Bedeutung zu überschätzen, weil man darüber die reale Gefahr »verschlafen« kann. Sie liegt in einer halb autoritären Stagnation für 15 bis 20 Jahre, durch die das Land zerstört wird.
So sehen also meine »unfrisierten Gedanken« aus.
Über eine kritische Anmerkung und (oder) »Zielanweisung« von Ihrer Seite würde ich mich freuen.
Lieber Michail Borissowitsch!
Vielen Dank für Ihren interessanten und gehaltvollen Brief. Ich bin ein Pessimist. Ja, das stimmt. Aber Sie sind ein hoffnungsloser
und unverbesserlicher Optimist. Sie gehen davon aus, dass die Machthaber sich von ihrer Ratio leiten lassen, dass sie nachdenken , dass sie der Logik folgen. Natürlich sind sie logisch, aber auf ihre Weise. Ihre Logik stützt sich auf ein ganz anderes als das uns bekannte Paradigma. Natürlich kennen sie die Begriffe »Wohl des Volkes«, »Prosperieren des Landes« und gebrauchen sie auch gern, legen ihnen aber ihren individuellen, besonderen, ganz persönlichen Sinn bei.
Sie sind sich absolut sicher, dass mit dem Wohl des Volkes vor allem IHR persönliches Wohl gemeint ist, und dieses Wohl ist eine alles kontrollierende rigide Macht. Außerhalb dieser Macht und ohne diese Macht wird das Volk zugrunde gehen, sich in eine Herde unlenkbarer, armer Tiere verwandeln. Dann kommt es zu einer Zeit der Wirren, und etwas Schlimmeres als eine Zeit der Wirren können sie sich nicht vorstellen.
»Wohlergehen des Landes« heißt vor allem eine gewaltige Militarisierung (»Russland hat zwei Verbündete: die Armee und die Flotte«, wobei wir heute hinzufügen würden: und die heldenmütigen Sicherheitsorgane), denn ohne die Militarisierung stellen wir nichts dar und sind niemand, jeder hergelaufene Staat vom Typ Georgiens kann uns verspeisen, von Amerika ganz zu schweigen (»verspeisen« war das Lieblingsverb des Genossen Stalin, wenn er von der Außenpolitik sprach).
Wenn der Lebensstandard sinkt, keine Panik. Dafür steht die Macht wie ein Fels da, und alles ist unter Kontrolle. Wenn es zu sozialen Unruhen kommt, keine Panik. Es gibt die OMON und die Spezialeinheiten, die nur darauf warten, Ordnung zu schaffen. Und es gibt die loyalen Medien,
die immer bereit sind, Demonstrationen als kriminelle Verschwörung von Mafia-Strukturen hinzustellen, als Anschläge des Abschaums unserer souveränen Demokratie oder gar als dreiste Aggression globaler Drahtzieher, die nichts anderes als das im Sinn haben.
Es gibt nichts Schreckliches und kann nichts Schreckliches in unserem Land geben, wenn die Machtvertikale unerschütterlich dasteht und die Meinungsumfragen über die Hauptpersonen positiv ausfallen. Wer hat behauptet, »der Erhalt eines
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