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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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sowjetischen Zuschnitts taugt für diesen Zweck nicht. Soweit er nicht schon tot ist, hat er mit Sicherheit keine Massenperspektive. Was kommt also infrage? Nur der Nationalismus. Und zwar einer, der kein Kinderspielzeug, sondern Nationalismus übelster Art ist.

    Es liegt auf der Hand, dass das Wohlergehen des Landes unseren Asketen oder Hedonisten, vorsichtig gesagt, nicht vorrangig am Herzen liegt. Aber eine starke Verschlechterung der Situation Russlands würde starke Auswirkungen auf ihre eigenen Interessen haben. Und da die Möglichkeiten einer Steigerung der Rohstoffförderung ausgeschöpft sind und die industrielle Entwicklungsperspektive durch China, Indien und andere »asiatische Tigerstaaten« beschränkt ist, mit denen wir eine Konkurrenz nicht aushalten, ist die Wahl einfach: Entweder bauen wir eine postindustrielle Wirtschaft auf, oder es wird zu einer Stagnation auf einem relativ niedrigen Niveau kommen.
    Dieses niedrige wirtschaftliche Niveau bringt uns in eine stark unterlegene Position nicht nur gegenüber China, der Europäischen Union und den USA, sondern auf weite Sicht auch gegenüber dem Iran und der Türkei. Sowie – auch wenn das jetzt angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in den Ohren vieler lächerlich klingen mag – gegenüber der Ukraine. Letzteres ist für die Asketen besonders gefährlich. Wenig wirkt sich auf die Mythen staatlicher Propaganda so zerstörerisch aus wie der Wohlstand der nächsten Nachbarn und »Verwandten«.
    Die »Zwangsmodernisierung« Stalins ist jetzt in Russland völlig ausgeschlossen. Grundlage dafür war die Massenflucht der Arbeitskräfte vom Land in die Stadt und der daraus folgende Anstieg der Produktivität. Genau das aber ist der »Motor« der chinesischen Wirtschaft. Er ist bei uns schon vor siebzig Jahren zum Stillstand gekommen.
    Selbst wenn die Asketen, die » die reine, eisige Macht« anstreben, im heutigen Russland auftauchten und sie bekämen, müssten sie meiner Meinung nach den neuen Gegebenheiten
der Welt Rechnung tragen. Und wenn sie dies nicht tun, würden die USA, die EU und China durch konzertierte Aktionen und geleitet von unterschiedlichen, aber in diesem Punkt identischen Interessen Russland auf die Stufe eines »Dritte-Welt-Landes« drücken, was weder für die Asketen selbst noch für unsere Bevölkerung akzeptabel ist. (Die Details, wie sich solch eine Degradierung technisch durchführen lässt, lasse ich weg, aber es hat in der Geschichte durchaus Präzedenzfälle für eine solche »konzertierte Aktion« gegeben.) Deshalb ist meiner Ansicht nach der Erhalt des hohen technologischen Standards in Russland heute die wichtigste Voraussetzung für den Machterhalt der Asketen.
    Was die Hedonisten betrifft, so ist ohnehin alles klar. Um sich an der Macht zu halten, müssen sie hier leben. Hier leben, ohne ein hohes Tempo des Wirtschaftswachstums zu garantieren, ist nur möglich durch den Übergang zum Totalitarismus. Dazu haben sie weder die politischen noch die psychologischen Ressourcen. Die Menschen haben gelernt, sich völlig gleichgültig dem Staat gegenüber zu verhalten, ihre Loyalität rein formal zur Schau zu stellen, ohne dass dahinter eine reale Ergebenheit steckt. Außerdem macht der Totalitarismus in einem großen europäischen Land des 21. Jahrhunderts das Leben sehr beschwerlich und schon bei kurzer Dauer perspektivlos. Präzedenzfälle dafür hat es gegeben.
    Viele verstehen den oben dargestellten Sachverhalt. Deshalb gilt das Szenario eines »trägen Russlands« auch für das wahrscheinlichste unter Experten.
    Zum Glück stehen nicht alle Menschen, selbst im bürokratischen Milieu, dem Schicksal ihres Landes gleichgültig gegenüber. Deshalb sehe ich es als meine Aufgabe an,
eine einfache Tatsache klarzustellen: Ohne eine ernsthafte Weiterentwicklung hat das gegenwärtige politische System halb autoritären Typs keine Perspektive in unserem Land. Es führt unweigerlich zur klassischen Situation der Stagnation und zu erneuter historischer Rückständigkeit, die in der heutigen globalisierten Welt eine existenzielle Bedrohung des Landes bedeutet.
    Ich bin überzeugt davon, Schutz vor dieser Bedrohung neuen Typs bietet nicht ein Polizeistaat, sondern nur eine Liberalisierung, die ein postindustrielles Projekt anvisiert.
    Ich möchte auch noch anmerken, dass mich nicht nur die heute in Russland wachsende »politische Unfreiheit« schreckt, sondern auch die »Jaebolisierung«, 75 die eine Folge davon ist.
    Schon 1996/97

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