Briefe in die chinesische Vergangenheit
nicht so sehr am Wohl ihres Vaterlandes interessiert sind als daran, selber möglichst lang an der Regierung zu bleiben. Wenn ein Ober-Mandarin nicht mehr gewählt wird, dann gilt das als Schande. Die Ober-Mandarine, Mandarine, Kanzler und Minister sind damit beschäftigt, sich mit beiden Händen an ihren Amtsstühlen festzukrallen. Da haben sie natürlich keine Hand frei für das Staatsschiff, das sie steuern sollten – allenfalls gelegentlich macht einer eine Hand frei … aber nur, um sie einem geheimen Geldgeber gegenüber aufzuhalten.
Eine im Ganzen durch und durch unedle Haltung. Vom vornehmen Wu-wei 8
› Hinweis
haben die Großnasen noch nie etwas gehört. Es ist mir auch klar, woher das kommt: von der nahezu krampfhaften Sucht der Großnasen, alles und jedes zu jeder Zeit zu verändern, und daß sie neu mit gut verwechseln. Neu kann gut sein, muß aber nicht. Wem sage ich das … Dir, dem besten Kenner des ›Tao-te-ching‹ im ganzen Reich der Mitte. Die Großnasen sind ständig damit befaßt, Veränderungen vorzunehmen. Sie nennen es, habe ich Dir schon geschrieben, Fort-Schreiten. So ist es nur folgerichtig, daß bei ihnen einer, der sich zum Zwecke der Betrachtung, der Kontemplation, der Selbstvervollkommnung vom öffentlichen Leben zurückzieht, als Versager , als Verlierer gilt. Eine ungeheuer dumme und gefährliche Haltung. So wagt kein Minister, Ober-Mandarin oder Kanzler, freiwillig sein Amt zur Verfügung zu stellen, weil nachher alle mit Fingern auf ihn weisen würden.
Auch, sagt Herr Shi-shmi, ist das Beharren im Amt eine Frage der Einkünfte.
Es kommt eben alles davon, daß die Großnasen zuwenig die Lehren des Erhabenen vom Aprikosenhügel und des ›Tao-te-ching‹ lesen. Dadurch sind die Herrschenden hier inkompetent für die Seele geworden. Ich würde sagen: sie verdienen nichts anderes als den Untergang ihrer Welt, wenn ich nicht befürchten müßte, daß sie damit auch unser geliebtes Reich der Mitte mit ins Chaos rissen. Herr Shi-shmi sagt, wenn ich ihm das darlege: er stimme mir zu, es gäbe schon viele, die alarmiert wären, aber insgesamt seien der Vernünftigen zuwenig. Wenn es soweit sei, daß die Herrschenden oder gar die Masse der Dummen die Gefahr erkennen, sei es wahrscheinlich zu spät.
Das Hauptproblem sei, daß es zu viele Großnasen gibt. Sie haben sich in den letzten Jahrhunderten vermehrt, daß ihre Häuser und Städte geborsten sind. Es gibt nun viel zu viele, und für die meisten ist keine vernünftige Beschäftigung da. So sitzen sie in riesigen Werkstätten und fertigen Dinge an, die eigentlich niemand braucht, und der Staat zahlt das Defizit der Werkstätten, dennoch geht es damit abwärts, denn das Zeug, das sie herstellen, wird immer weniger brauchbar und wird nur weggeworfen, daher bekommt der Staat aber weniger Steuern, weil die Riesen-Werkstätten keinen rechten Profit mehr machen, und es reicht das Geld des Staates hinten und vorne nicht, um alle zu unterstützen, die danach schreien, und die Regierenden fürchten, daß die Leute, wenn sie einmal gar nichts mehr zu tun haben und nichts zu essen, aus Untätigkeit auf dumme Gedanken kommen und ihnen – den Regierenden – hinterrücks die Stühle anzünden, an denen sie sich so krampfhaft festhalten – es ist alles unglaublich kompliziert und für den einzelnen nicht mehr zu durchschauen. Es ist ein Dickicht – ein Dickicht von Großnasen, weil es eben zu viele sind. Ich erlebe es jeden Tag, wenn ich auf die Straße gehe.
Hier in Ba Yan, sagt Herr Shi-shmi, sei die Versorgungslage noch gut. Anderwärts, in ärmeren Staaten, sei schon der Hunger ausgebrochen. Es sei jedoch nur eine Frage der Zeit, wann der Hunger auch hierher übergreife. Was tun die Großnasen? Was tun die Regierenden? Sie tun nichts anderes als die doppelte Ration zu fressen, solang sie sie noch kriegen. Hungern, sagen sie sich, können wir morgen auch noch. Sie schreiten von sich selber fort, sie schreiten fort von ihrer Seele. Sie haben das ›I Ching‹ und das ›Tao-te-ching‹ nicht gelesen.
Ein anderes Problem ist der Schmutz. Ich glaube, es war in einem meiner ersten Briefe, daß ich dir geschrieben habe: der Lärm fiel mir als erstes auf hier und der Schmutz. Es ist ein grundsätzlich anderer Schmutz als unserer. Wenn der Wind durch unsere Straßen weht, die nicht aus Stein sind, wirbelt er Staub auf. Wenn ein starker Wind oder gar ein Sturm aufkommt, dringt der Staub in die Häuser. Wenn ein Bote vom Land kommt, trägt er an
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