Brigade Dirlewanger
er nacheinander mit sich Schluß machen, Handgranaten werfen, Karen befreien, Menschen zum Aufruhr führen.
Endlich hatten sich die sinnlosen Vorsätze an der Vernunft die Köpfe eingeschlagen, und er begann wieder zu denken. Eigentlich konnte er gar nichts tun. Wenn er einen Funken Logik hatte, tauchte er so schnell wie möglich unter und versuchte, über die Grenze zu kommen. Das bedeutete zwar die Fahnenflucht seiner Gefühle … aber wäre Karen auch nur im mindesten gedient, wenn er sich wie ein sturer, hölzerner Kegel hinstellte und auf die anrollende Kugel wartete?
Er lief und überlegte. Im Osten, vom Brandenburger Tor her, zeigten erste Silberstreifen den Beginn eines trostlosen Tages an. Vonwegh besah sich wie im Spiegel. Er mußte rasiert sein, brauchte ein frisches Hemd und eine ordentliche Bügelfalte. Für diese Banalitäten der Zivilisation mußte er zunächst alles riskieren, wenn er auch nur am Pförtner der schwedischen Botschaft in Berlin vorbeikommen wollte.
Er war der erste, der am Bahnhof Anhalterstraße ein Bad nahm und sich rasierte. Er war der erste in einem Konfektionsgeschäft, der ein Hemd … kaufen wollte. Kleiderpunkte brauchte Vonwegh. Lächerlich. Er wollte eine Verkäuferin mit fünfzig Mark bestechen. Noch lächerlicher. Als er ging, winkte ihm die Chefin und steckte ihm hinter dem Rücken der Angestellten ein Päckchen ohne Punkte und Geld zu. Seine Augen, die bettelten, ohne daß er es wollte und wußte, hatten für ihn bezahlt.
Er kam am Pförtner vorbei. Über zwei weibliche Angestellte hinweg gelangte er zum Sekretär des Botschafters. Einem Deutschen. Ohne zu sagen, wer er war, ohne einen Ausweis präsentieren zu können, schaffte er noch ein Vorzimmer. Ein schweigsamer Herr mit farblos hellen Haaren und einem Gesicht, in dem die Sommersprossen Platznot hatten, hörte ihn im Stehen an. Während Paul Vonwegh den Fall schilderte, überlegte der Schwede offensichtlich, ob er einen Kriminellen oder einen Verrückten vor sich habe und wie viel Zeit er noch an die Höflichkeit verschwenden sollte.
»Ich verstehe immer noch nicht, was Sie wollen«, antwortete er im fast akzentfreien Deutsch.
»Karens Mutter ist Schwedin … geboren in Uppsala … Eine Tante lebt heute noch in Malmö …«
»Aber sie ist deutsche Staatsangehörige … Was könnten wir tun?«
»Ich will Sie nur auf Karen aufmerksam machen … verstehen Sie? … Ich stelle mich in einer Stunde freiwillig … Mit mir wird danach nicht mehr viel anzufangen sein …« Vonweghs Gesicht preßte sich zu einer einzigen Bitte zusammen. »Es muß doch irgendeinen geben, der sie noch im Auge behält … und vielleicht …«
»Setzen Sie sich«, sagte der Schwede.
Er bot Vonwegh eine englische Zigarette an, in der Hauptstadt Deutschlands, das mit Großbritannien im Krieg lag, in einer neutralen Oase im Herzen eines Landes, das so oder so hinter Stacheldraht lebte.
»Kann ich das als verbindlich betrachten … daß Sie sich selbst stellen?«
»In einer Stunde«, wiederholte Vonwegh.
Zum ersten Mal lächelte der Attaché leicht, in einer kühlen Art, die das Gesicht nicht bewegte.
»Sagen wir …«, erwiderte er, »dreißig Minuten nach Verlassen dieses Hauses?«
Paul Vonwegh nickte. Dann wurde er in einen kleinen Raum ohne Fenster geführt, der bereits Ähnlichkeit mit einer Zelle hatte. Man gab ihm Kaffee, Zigaretten und Gelegenheit, wieder zu gehen.
Gegen Mittag fürchtete er, vergessen zu sein. Sie decken sich ab, überlegte er, sie müssen das tun. Sie stellen erst einmal fest, ob ich nicht schon verfolgt wurde. Und dann peilen sie um drei Ecken herum den Fall an. Der Schwede, mit dem Vonwegh gesprochen hatte, sah aus, als ob er vom Untergrund etwas verstünde.
Übrigens auch vom Aquavit. Gegen sechzehn Uhr holte man Vonwegh.
Der Attaché von heute morgen deutete auf ein eisgekühltes Glas. »Skál«, sagte er. Er schenkte sofort nach. »Ja«, fuhr er schließlich fort, »soweit stimmt alles … Kein Haftbefehl … Sie ist beim SD … Man benutzt sie als eine Art Geisel … gegen Sie«, setzte er hinzu und schenkte zum dritten Mal nach.
Paul Vonwegh nickte. Er hatte es sich nicht anders vorgestellt.
»Sie sind übrigens denunziert worden …«, erklärte der Attaché, »von ihrem Vetter …« Er überlegte. »Brillmann heißt er oder so ähnlich.«
»Er sollte eine Verbindung zwischen …«
Der Schwede winkte ab. »Wollte er auch … Hat dann kalte Füße bekommen bei dem Spiel …
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