Brigade Dirlewanger
Vonwegh rasch, denn er spürt, daß er am Ende seiner Selbstbeherrschung ist. Luft, denkt er, Licht, allein sein! Er fühlt die alten Striemen auf seiner Haut. Aber er sieht Karens wundes, wehes Lächeln, und das schmerzt mehr als Dunkelzelle, Nahrungsentzug und Gehirnwäsche, die er dem B-Soldaten Brillmann verdankt.
Damals, als er von den Verhören zurückkam, als er wieder in seine Zelle abgeführt wurde, hatte es ihm das Mädchen leichter gemacht, hatte in Gedanken den misshandelten Kopf gestreichelt, den zerschlagenen Körper gepflegt …
Selbst als er jetzt im Freien steht, glaubt er zu ersticken. Er läuft hin und her, auf und ab: fünfzig Schritte vor, fünfzig Schritte zurück. Wie lange dauern zehn Minuten?
Auf einmal weiß Vonwegh, woher die plötzliche Schwäche kommt: Er wird erfahren, was aus Karen geworden ist … eine Frage, die er sich seit zwei Jahren vorgelegt hat und die ihn quälte, die lodernde Hoffnung, die zu Schlacke verbrannte, eine Ungewissheit, an der er zu zerbrechen fürchtete … Und plötzlich weiß er, wie barmherzig sie war, denn sie ließ in der Asche noch ein paar Funken Hoffnung …
Noch sechs Minuten. Paul Vonwegh spürt, wie er sich langsam wieder in die Gewalt bekommt. Er geht auf die Barackentüre zu, reißt sie auf. »Kommen Sie, Brillmann!« ruft er.
Der B-Soldat geht wie abgeführt, atmet schwer. Sein weichliches Gesicht zeigt verschlagene Unterwürfigkeit.
»Also …«, beginnt der Zugführer. Es gelingt ihm ein fast gleichgültiger Ton.
»Es ist ihr gar nichts geschehen …«, unterbricht der frühere Staatsanwalt und sichert nach allen Seiten, mit Hundeblick, mit den Augen eines falschen Hundes.
»Ich will wissen … was geschah!«
»Sie war nur acht oder zehn Tage bei uns …«
Vonwegh schaut ihn unverwandt an.
»Ich meine … bei der Gestapo«, setzt Brillmann dann schnell hinzu.
»Und dann?«
»… wurde Karen der ordentlichen Justiz übergeben …«
Der ordentlichen Justiz, denkt der Zugführer und spürt Sand im Hirn. Er weiß, wie ordentlich diese Justiz unter dem Hakenkreuz ist und vor dem Hakenkreuz war.
»Zwei Monate Untersuchungshaft …«, fährt der B-Soldat mit gehetztem Gesicht fort, »normale Haft … Sie durfte lesen, schreiben, rauchen und …«
»Kommen Sie zur Sache!« unterbricht ihn Vonwegh.
Brillmann fängt sich. So etwas wie Widerstand kommt in seinen buckeligen Rücken und erschlafft wieder. »Ich muß es Ihnen sagen …«, antwortet er, »daß es mir … leid tut …«
»Ach nein«, versetzt Vonwegh, noch immer beherrscht. »Es tut Ihnen leid … Prima, herrlich!« Jetzt erst hat seine Stimme Diskant, wirkt geschraubt, zu hoch. »Dann ist ja alles in Ordnung! … Und unser kleines Gespräch erledigt sich von selbst …«
»Sie wollen mich fertigmachen«, entgegnet der Bindestrich wie zu sich selbst.
»Meinen Sie?« fragt Paul Vonwegh. Die Pupillen seiner stahlgrauen Augen sind hell, blau fast, zu hell. »Sie täuschen sich nicht«, antwortet er dann, ganz ruhig, so gelassen und distanziert, als ob seine Stimme Handschuhe trüge. »Ich werde Sie fertigmachen … aber …«, zum ersten Mal spricht er lauter, »nicht auf Ihre Tour … auf meine Art.« Er lächelt. Sein Gesicht verändert sich noch nicht, als er ohne Übergang hinzusetzt: »Was geschah mit Karen?«
»Vier Monate Gefängnis wegen Begünstigung«, leiert Wulf-Dieter Brillmann herunter, als hätte er es auswendig gelernt, »Strafe ausgesetzt zur Bewährung …«
Er lügt, spürt Paul Vonwegh.
Draußen ist es kalt und unfreundlich. Aber in der Datscha leben sie wieder wie einst im Mai. Das lustige, übermütige Gelächter wird von den Burggendarmen scharf bewacht. Dirlewanger ist erst halbblau. Er hat die Uniform aufgeknöpft.
Auf der Schreibstube im Schloß wartet Paul Vonwegh, in die Datscha zum Rapport befohlen und vergessen.
»Ich hab' eine Idee, Chef«, sagt Oberscharführer Weise.
»Sie haben immer Ideen …«, erwidert der Standartenführer anerkennend. »Nur so weiter, mein Sohn!«
»Wir haben doch zwei Russinnen im Bau … die bestimmt wissen, wo die Partisanen stecken …«
»Und?« fragt Dirlewanger, schon wieder gelangweilt.
»Die reden nicht …«, fährt Weise fort. Sein Gesichtsausdruck läßt keinen Zweifel offen, was er alles versuchte, um sie gesprächig zu machen.
»Und?« fragt der Chef der Sonderbrigade zum zweiten Mal.
»Ich dachte … die Maria könnte sie aushorchen … Ihre Ukrainerin,
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